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"Da reagiere ich direkt allergisch" ... diesen Ausspruch hat wahrscheinlich jeder schon selber benutzt. Gemeint sind hier allerdings nicht die bekannten Symptome wie laufende Nase, Hautjucken oder geschwollene Augen, die viele Menschen haben, wenn der Pollenflug so richtig in Gang kommt oder Nachbars Katze auf der Gartenbank sitzt. Die Rede ist meist von den lieben Mitmenschen, oder besser gesagt, von einigen Verhaltensweisen.
Das Wort Allergie hat kurz nach 1900 ein Kinderarzt namens Freiherr Clemens von Pirquet etabliert, und zwar als Gegensatz zu dem Begriff "Energie". Im Prinzip war eine von außen wirkende Kraft gemeint, die den Körper dazu bringt, auf eine bestimmte Weise zu reagieren. Das stellte er in den Gegensatz zur körpereigenen inneren Kraft. Eine allergische Reaktion ist eine übersteigerte Reaktion auf einen Reizstoff, eine Überempfindlichkeit.
Auf einer Party werden Scherze gemacht, alle sind vergnügt und lachen – bis mit einem Mal jemand völlig anders reagiert. Er oder sie steht auf und verlässt den Raum oder ist sichtlich angespannt – die Stimmung ist erst einmal gekippt. Ein an und für sich harmloser Scherz hat jemanden beleidigt, was erst einmal niemand versteht. Schließlich war es ja nur Spaß. Irgendetwas ist passiert, wahrscheinlich hängt es mit einer subjektiven Assoziation zusammen. Die betreffende Person hat auf einen äußeren Reiz überempfindlich reagiert. Mit Sicherheit ist das diesem Menschen eigentlich peinlich, aber er kann nichts dagegen tun.
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen mit Bekannten in einem Restaurant, am Nachbartisch ist ein Gespräch über sehr unappetitliche Dinge im Gang. Vielleicht beschreibt eine stolze Mutter facettenreich den Windelinhalt ihres Babys. Viele Anwesende werden sich daran nicht stören, einige bemühen sich krampfhaft wegzuhören, und mit Sicherheit vergeht dem einen oder anderen der Appetit. Diese verschiedenen Reaktionen sind alle nachvollziehbar – aber es gibt auch solche, die erst einmal völlig unverständlich sind. Ein Mann verlässt wütend eine Party, weil jemand versehentlich sein Glas benutzt hat, eine Frau wird unverhältnismäßig wütend, weil jemand im Vorbeigehen ihr Haar gestreift hat, oder jemand steht kurz vor dem Durchdrehen, weil irgendein Anwesender laut und anhaltend lacht.
Solche Reaktionen können meist von den anderen nicht nachvollzogen werden. Man könnte sich ein neues Glas besorgen und alles wäre in Ordnung. Einer solchen Nichtigkeit wegen kann man eigentlich kaum dermaßen in Wut geraten, dass man die Gesellschaft verlässt. Und es ist immer damit zu rechnen, dass man unabsichtlich berührt wird, wenn man sich unter vielen Menschen befindet – die Frau weiß das natürlich und sagt nur hilflos: "Ich kann es einfach nicht leiden, wenn jemand meine Haare berührt, ich weiß nicht warum." Und dass jemand aggressiv wird, weil ihn das laute Lachen eines anderen nervös macht, ist auch eher ungewöhnlich – und doch passiert es.
In den meisten Fällen wissen die Betreffenden nicht, warum sie so und nicht anders reagieren. Das bringt sie in Erklärungsnot und allzu leicht haben sie dann ein Etikett weg. Hysterisch, überempfindlich oder mimosenhaft – das sind Eigenschaften, die man natürlich nicht schätzt, wenn sie einem zugeschrieben werden. Aber so einfach ist es auch nicht. Jede "Allergie" hat eine Ursache, mag sie auch noch so lange zurückliegen. Selbst wenn man wüsste, wieso einen eine banale Kleinigkeit entweder ausrasten oder in Panik verfallen lässt, man könnte das ebenso wenig abstellen wie die juckende Nase beim Pollenflug. Hier ist eine gewisse Toleranz gefragt, denn wenn wir ehrlich sind, haben wir alle den einen oder anderen kleinen Spleen. Mit Glück ist es einer, der nicht weiter auffällt – haben wir Pech, ist es ein Stimmungskiller.
Aber wie auch immer – damit leben müssen wir, weil die wenigsten deswegen einen Therapeuten bemühen. Schreit jemand dermaßen schrill auf, dass auf der Party alle die Gläser fallen lassen, ist das zwar ein wenig unangenehm – wenn der Betreffende dann aber sagt, dass er jedes Mal so erschrickt, wenn ihm jemand von hinten die Hand auf die Schulter legt, müssen wir das akzeptieren – und genau das vermeiden, wenn wir beim nächsten Mal daran denken.
Was die begeisterten Windelanalytiker am Nebentisch betrifft, es sollte einfach sein, die Tischrunde zu bitten, das Thema zu wechseln, solange man sich selber noch durch die Lasagne kämpft. Den Leuten ist wahrscheinlich nicht bewusst, wie laut sie sind. Oder aber sie haben kein Verständnis für unsere Bitte, da sie den Bezug nicht herstellen können. Damit ist durchaus zu rechnen, denn es gibt tatsächlich Zeitgenossen, die bei einer Wahl für "Miss Schweden" am laufenden Band Blondinenwitze erzählen würden und überrascht wären, wenn man sie aus dem Saal wirft.
Aber zurück zu denjenigen, die ihre eigene Reaktion als peinlich erleben – um eine Kettenreaktion zu vermeiden, sollte man versuchen, die Sache einfach hinzunehmen. Es ist niemandem geholfen, wenn sich alle über diese eine Reaktion des sonst so netten und lustigen Kerls aufregen. Schließlich kann man selber auch einmal in diese Lage geraten und schlicht und einfach überreagieren ... unserer "Allergien" wegen.
© "Allergisch auf den Nachbarn – Aufregung wegen banaler Kleinigkeiten": Textbeitrag und Buchcover-Abbildung von Winfried Brumma (Pressenet), 2011.
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