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Auge um Auge – dieser im Allgemeinen missverstandene Bibelspruch wird immer wieder heiß diskutiert. So der Fall einer iranischen Frau, die sich zur persönlichen Vergeltung bereitmachte: Ein abgewiesener Verehrer hatte sie mit Säure geblendet und erheblich verletzt, ebenso ihr Gesicht entstellt. Das iranische Recht erlaubte ihr, ihrem Peiniger ebenfalls das Augenlicht zu nehmen, indem sie ihm Säure in die Augen träufelt.
"Ich will nicht verzeihen", sagte die schwer entstellte und beeinträchtigte Frau. Die Rede ist nicht von "können", sondern von "wollen". Das ist etwas, das selten ausgesprochen wird, denn meist heißt es: "Ich kann dieser Person dies oder jenes nicht vergeben." Aber stimmt das wirklich? Im Falle der Iranerin wird es kaum jemanden geben, der – wenn er sich das Martyrium der Frau vor Augen hält – nicht wenigstens ansatzweise Verständnis für ihre Forderung hat. Das bedeutet nicht, dass er es auch gutheißen muss.
Es erscheint kaum verständlich, dass man zum Beispiel einer Kleinigkeit wegen keine Verzeihung gewähren will. Eine Beleidigung, vor langer Zeit im Zorn ausgesprochen oder vielleicht ein noch nichtigerer Grund, können zu jahrelangen Feindschaften führen. "Das verzeih ich ihm/ihr niemals" – das sind harte Worte und oft auch Tatsache, denn lang gehegter Groll schwindet ja nicht. Er wird ja, wie im Wort auch tatsächlich ausgedrückt, "gehegt" – dies bedeutet ja gepflegt und genährt. Nun wird grundsätzlich und immer geraten, sich nicht selber zu schaden und endlich loszulassen, sprich: vom Groll abzulassen und endlich ad acta zu legen, was immer auch vorgefallen war.
Tatsächlich stimmt es ja, dass negative Gefühle dieser Art nicht gerade förderlich für uns sind, aber wenn sie keinen Sinn hätten, wären wir nicht fähig, sie zu empfinden. In dem Moment, wenn uns in unserer Wahrnehmung ein Unrecht geschieht, wird uns eine Verletzung zugefügt. Ob die Sache tatsächlich so ist, wie sie uns erscheint, spielt dabei keine Rolle. Wir empfinden Schmerz und auch Ärger, Wut und Empörung. Diese Gefühle helfen erst einmal über den "Wundschock" hinweg, sie schaffen eine Art Puffer, wie es eine Brandblase tut. Meist heilt die Verletzung schnell ab ... man ist zur Nachsicht bereit und verzeiht – in neunzig von hundert Fällen lag nicht einmal eine böse Absicht vor, was in einem klärenden Gespräch zutage kommen kann.
So oder ähnlich kennen wir das alle – aber was ist geschehen, wenn jemand über lange Zeit zu keiner Versöhnung bereit ist? Eigentlich ist gar nichts geschehen, sondern die Zeit ist für den Betreffenden stehen geblieben. Das bedeutet einfach, dass es nicht aufgehört hat zu schmerzen. Und solange der Schmerz präsent ist, wird man es sehr schwer finden, die Sache auf sich beruhen zu lassen und mit dem Verursacher unbefangen umzugehen. Ein hingeworfenes Wort, ein nicht eingehaltenes Versprechen ... das klingt nicht sonderlich schwerwiegend. Aber oft setzt eine solche Kleinigkeit in unserer Seele eine Kettenreaktion in Gang, die an Dinge rührt, die tief in uns verborgen sind und von denen wir nicht zwingend etwas wissen müssen. Somit kann man sich nicht damit auseinandersetzen und der Schmerz bleibt, um ein Stück Lebensqualität zu nehmen.
Es sollte hilfreich sein, sich tatsächlich mit dem Gefühl auseinanderzusetzen. "Wieso hat mich gerade dies oder jenes so sehr getroffen, was habe ich damit verbunden, woran hat es gerührt?" Ergründen Sie Ihr Gefühl, aber wenn Sie nicht verzeihen wollen, dann gestehen Sie es sich einfach ein. Allein das kann befreiend wirken, denn der Druck, nicht nachtragend sein zu dürfen, ist ebenso schädlich wie kultivierter Groll – schließlich schützt uns unsere Erfahrung ja auch. Trotzdem sollte eine gewisse Verhältnismäßigkeit gegeben sein, wie das Beispiel der jungen Frau aus dem Iran zeigt. Sie hat ihr Augenlicht verloren, das ist etwas, das sie unmöglich vergessen kann – und sie will nicht das alleinige Opfer sein. Ob sie sich besser fühlen wird, wenn der Täter auch erblindet, ist mehr als fraglich – aber das ist etwas, das sie selber herausfinden wird.
Eine dumme Bemerkung, die unser Selbstwertgefühl verletzt hat – oder etwas ähnlich Unspektakuläres – ist angesichts dieses Falles etwas, das wir irgendwann vergessen sollten ... auch wenn wir es nicht wollen. Es ist eine Frage der persönlichen Entwicklung und gehört in den Bereich "seelischer Sondermüll", der irgendwann entsorgt werden sollte.
© "Auge um Auge: Verzeihen und vergessen": Textbeitrag und Buchcover-Abbildung von Winfried Brumma (Pressenet), 2011.
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