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Es gibt Menschen, und natürlich gibt es ganz viele Leute – letztere sind die, mit denen man es am meisten zu tun hat. Niemand kann den Leuten ausweichen, auch wenn sie nicht mit einem verwandt sind – man ist von ihnen umgeben. Das ist normalerweise auch nicht schlimm – es sei denn, sie machen uns Angst. Die Rede ist nicht von kettenschwingenden Rockern, Bandenmitgliedern, die durch die Vorgärten streifen und was es sonst noch so Bedrohliches im urbanen Leben gibt. Die Rede ist von den Menschen, die uns eine höllische Angst einjagen, allein dadurch, dass sie in unserer Nähe sind.
Das leicht mulmige Gefühl beim spätabendlichen Gassi mit dem Terriermischling, wenn eine dunkle Gestalt einige Zeit hinter uns herläuft und dann zum Überholen ansetzt, kennt jeder. Oft grüßt diese Gestalt ganz freundlich, wenn sie auf gleicher Höhe mit uns ist, oder aber sie ignoriert uns völlig. Das kurze Aufflackern von Angst liegt einfach im Unbekannten begründet – man weiß nicht, wer da unterwegs ist und was er im Schilde führt. Sobald der oder die Unbekannte vorübergegangen ist, verblasst der Angstmoment und wir vergessen das Ganze.
Wechseln wir zu einer anderen Szene – es klingelt an der Türe und vom Fenster aus sehen wir die nette Frau X, die mal wieder einen ihrer Nachbarschaftsbesuche macht. Und sofort melden sich Kopfschmerzen an, der Körper verkrampft sich und man würde am liebsten fluchtartig das Haus verlassen ... aber den Fluchtweg blockiert Frau X. Es könnte auch das Handy klingeln, eine überaus gut bekannte Nummer prangt fett auf dem Display und man bekommt beim bloßen Gedanken an ein Gespräch mit dem netten Herrn Y einen Schweißausbruch. Abstellen kann man das Ding nicht, man erwartet einen wichtigen Anruf. Der Abend ist somit gelaufen.
Was haben diese Beispiele als gemeinsamen Nenner? Es handelt sich nicht um Feinde, jedenfalls vordergründig nicht – es sind Menschen, die man kennt und mit denen man eigentlich keine Probleme haben sollte. Nicht mit der lieben Frau X, und auch nicht mit dem sympathischen Herrn Y. Aber sobald sie verschwunden sind, fühlt man sich so schlapp, als hätte man den ganzen Tag im Steinbruch geschuftet und hat eine fürchterliche Laune. Die Kinder werden angebrüllt, der Hund und natürlich auch der Partner ... man ist wie gehäutet und verträgt nicht einmal ein leises und zaghaftes "Hallo". Es ist, als wäre einem alle Energie abgesaugt worden.
Das Wort für solche Menschen lautet: Energievampire. Damit sind Leute gemeint, die durch ihre Präsenz oder ihre Art der Kommunikation unsere gesamte Aufmerksamkeit und Konzentration fordern. Und wenn sie gegangen sind, haben wir keine Kraft mehr für den Moment. Wir haben Versprechungen und Zusagen gemacht, die wir eigentlich nicht machen wollten, oder wir bleiben mit dem schalen Gefühl zurück, versagt zu haben. Gegenmaßnahmen gegen solche "Vampire" sind nicht einfach – und zwar deswegen nicht, weil sie uns bekannt sind und wir keinen Streit mit ihnen haben. Auch sind sie selten streitlustig, denn darauf könnte man angemessen reagieren. Es gibt Mittel gegen Aggressionen oder Beleidigungen, aber gegen dieses völlige Inanspruchnehmen kommt man schwer an. Man hat Frau X vielleicht zu oft die Türe geöffnet und – weil man schließlich nett sein will und sie ja so hilfsbereit ist – zu allem genickt, während man heimlich auf die Uhr geschielt hat. Möglicherweise hat man zu oft sehr lange mit Herrn Y telefoniert, bis die Backe glühte und der Akku leer war. Schließlich hat der Gute wohl im Moment niemanden und jeder sollte sich aussprechen können, das kann einem selber ja auch einmal passieren.
Da für diese Zeitgenossen das Bild vom Vampir ausgesucht wurde, nehmen wir doch die Mythologie zur Hilfe: der Legende nach kann ein Vampir nicht herein, also in unsere direkte Nähe, wenn er nicht eingeladen wurde. Irgendwann wurde der Zugang gewährt, aus einem schmalen Pfad wurde ein breiter Weg – aber irreversibel ist das nicht. Was immer uns zurückhält, dieser Frau X zu sagen, dass sie uns nervt, oder Y zu erklären, dass er seinen Müll woanders abladen soll – also den Kontakt abbrechen zu können – es ist schwer zu überwinden. Sie meinen es alle nur gut (eine sehr nette Umschreibung für Taktlosigkeit oder sogar böse Absichten) und man will niemanden verletzen. Wenn man aber Magendrücken bekommt, wenn das Handy bimmelt oder die Türglocke anschlägt, sollte man sich überlegen, ob das Gebot der Höflichkeit bis zum Nervenzusammenbruch eingehalten werden muss.
In manchen Foren wird die Sache mit den Energievampiren als spiritueller Angriff beschrieben und man gewinnt den Eindruck, als gäbe es einen Krieg zwischen Vampiren und Nichtvampiren. Irgendwie erwartet man den Hinweis auf Knoblauchketten und Kruzifixe, ebenso gewinnt man den Eindruck, dass die ganze Sache beginnt, aus dem Ruder zu laufen. Es riecht von ferne nach Scheiterhaufen – und das sollte nicht sein.
Die Tatsache, dass es solche Situationen gibt, bedeutet nicht, dass es spezielle Menschen gibt, die Energie anzapfen und absaugen können, wie es ihnen gerade gefällt. Dass es tatsächlich passiert, liegt zum Teil an uns. Herrn Y könnte gesagt werden, dass er einen müde macht, dass man es nicht so richtig "schafft" und dann den Kontakt kündigt. Eine andere Variante wäre es, beim nächsten Anruf sofort mit einer Riesenlitanei eigener Probleme anzufangen und erst aufzuhören, wenn Y das Gespräch unter einem Vorwand abbricht. Sollte er tatsächlich noch einmal anrufen, könnte man das Ganze wiederholen – und man hätte Ruhe. Es wäre jedoch falsch, das ohne finale Erklärung zu tun: "Wir sollten mal eine Zeit lang keinen Kontakt haben, weil du es jedes Mal schaffst, mich fix und fertig zu machen." Und dann hart zu bleiben für einige Wochen. Falls man dann noch keinen anderen Modus gefunden hat, wird dies ebenfalls wiederholt.
Der schwierigste Fall ist die nette Frau X – da spielt echtes Mitleid eine Rolle. Ist man tatsächlich der einzige, der Frau X einlässt und mit ihr spricht, verweist man sie auf andere Aktivitäten, die neue Bekanntschaften ermöglichen. Geht sie überall ein und aus und macht die Leute müde, steckt wahrscheinlich Absicht dahinter. Und da sollte man resolut sein und an der Türe abblocken. Das tut nur ein bis zweimal ein wenig am Gewissen zwacken – dann geht das ganz wunderbar.
Tatsächlich zapfen diese Menschen nicht wirklich Energie – sie bringen es nur fertig, unseren Fokus zu verlagern, und zwar ausschließlich auf sich selbst. Sie nehmen, ohne etwas zurückzugeben. Das nette Mitbringsel der Frau X, die Bewunderung und Dankbarkeit von Z, oder der Nusskuchen von Mama sind als Gegengabe nicht geeignet. Die ausschließliche Fokussierung schneidet uns zeitweilig von uns selber ab – manche Menschen bringen so etwas fertig – sie sind aufmerksamkeitssüchtig und haben eine Art ungute Präsenz, die den Abwehrmechanismus lahmlegt. Manche tun das bewusst – andere nicht, aber darauf kommt es nicht an.
Wehren bedeutet in diesen Fällen einfach, sich nicht darauf einzulassen – dem "Vampir" also keinen Einlass zu gewähren. Stellen wir fest, dass wir uns nach dem Kontakt mit einem Mitmenschen immer schlecht fühlen, ist es an der Zeit, den Kontakt abzubrechen oder soweit zu minimieren, wie es nur geht (am Arbeitsplatz kann man sich nicht so gut entziehen). Nachhaken ist eine gute Strategie – denn, wenn die Aufmerksamkeit durch kritische Ansätze verwässert wird, bekommt das Gegenüber nicht genau das, was es will – und sucht andere Quellen.
© "Feindbilder der Neuzeit: Energievampire": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Illustration: Thomas Alwin Müller, littleART.
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