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"Lügen haben kurze Beine". Was dieser sinnige Spruch ausdrücken soll, ist einfach die Tatsache, dass eine Lüge selten alleine kommt. Wenn man darüber nachdenkt, ist es wirklich sehr selten, dass eine einzige Unwahrheit gesagt und die Sache damit erledigt ist – Unwahrheiten treten meist gehäuft auf, weil sie einander stützen müssen.
Kinder sagen spontan Dinge, die nicht so sind – meist steckt nicht die Absicht zu lügen dahinter. Es geht darum, eine bestimmte Sache anders darzustellen, als sie eben ist, oder aber so wie sie "gefühlt" wird. Sehr kleine Kinder sagen: "Nein, ich war das nicht", obwohl für jeden offensichtlich ist, dass das nicht stimmt. Es bedeutet einfach, dass sie nichts damit zu tun haben wollen, Angst vor der Situation haben. Von lügen im Sinne, dass gezielt die Unwahrheit gesagt wird, kann kaum die Rede sein.
Erst später lernt man, durch Unwahrheiten die Realität etwas anzugleichen, um diese angenehmer oder auch angstfreier zu machen. Ein Schüler, der den Nachmittag bei einem Freund anstatt beim Hausaufgaben machen verbracht hat, stellt das natürlich anders dar. Er möchte einfach den Vorwürfen ausweichen, die auf ihn zukommen werden. Die Hausarbeiten macht er entweder spät abends oder morgens schnell, bevor der Unterricht beginnt. Das allerdings zieht wahrscheinlich weitere Unwahrheiten mit sich, wahrscheinlich macht das alles zusammen mehr Stress als die Wahrheit – außer natürlich, wenn die Eltern sehr streng reagieren.
Viele Lügen werden schlichtweg aus Angst erzählt – und das betrifft nicht nur Kinder. Die meisten Menschen geben an, sie würden lügen, um "nicht zu verletzen". Das kann ein Kompliment sein, dass nicht ganz ehrlich gemeint ist, oder einfach eine schöngefärbte Antwort auf Fragen wie: "Sag mal, wie findest du meine neue Frisur?" Aus niederen Beweggründen wird hier bestimmt nicht gelogen, allerdings ist der Nutzen fraglich. Jeder Mensch hat nun einmal seine eigenen Vorstellungen von Mode, und eine Freundschaft sollte eine ehrliche Meinung vertragen. Im Falle von flüchtigen Begegnungen kann von einer "Höflichkeitslüge" gesprochen werden – und tatsächlich ist das auch nicht zu verurteilen. Höflichkeit ist kein überaltertes Relikt, sondern eine Art Versicherung für das soziale Leben – sie verhindert so einiges an Eskalation. Eine positive Bestätigung ist etwas, das einen ungemein günstigen Effekt auf das Zusammenleben der Menschen hat, wenngleich es mit Sicherheit in den meisten Fällen tatsächlich etwas Positives zu sagen gibt und überhaupt nicht gelogen werden muss.
Die alte und immer wieder gerne erzählte Geschichte von den Vätern und Ehemännern, die zu Weihnachten oder Geburtstagen stets Rasierwasser oder Krawatten bekommen, kann ebenso als Beispiel dienen. Das gilt auch für Mütter, die sich über die ewig gleichen Geschenke am Muttertag ärgern. Die Betroffenen sollten aufhören, Freude zu heucheln, wenn es offensichtlich ist, dass die Schenkenden nur an die eigene Bequemlichkeit denken und sich einfach keine Mühe machen wollen. Hier riskiert man mit der Wahrheit nur zwei Dinge – entweder wird das Verhalten überdacht und man ändert sich, oder man hat eben für eine Zeit beleidigte Familienmitglieder. Auf Geschenke, die gedankenlos "schnell besorgt" werden, kann hier durchaus verzichtet werden. Das "nicht verletzen wollen" ist eine ehrenhafte Absicht, aber oft völlig verfehlt.
Auch in Partnerschaften geht es nicht immer ehrlich zu – kleine oder auch große Lügen werden erzählt, um Situationen zu entschärfen, um die Harmonie nicht zu stören, seelische Verletzungen zu vermeiden oder – leider auch – um Streit oder sogar Gewalt auszuweichen. Das Lügengebilde, das oft entsteht, wenn man – aus Angst zum Beispiel – immer weiter lügen muss, tut der Psyche nichts Gutes. Wer sich in dieser Situation befindet, erlebt sich selbst als sehr schwach und zunehmend entmündigt. Ein erwachsender Mensch, der ständig lügt, um die Harmonie zu stützen, agiert nicht selbstbestimmt. Er baut an den Lebenslügen oder der Bequemlichkeit anderer mit, ob er das nun möchte oder nicht.
"Natürlich kannst du deinen Hund mit auf das Grillfest bringen, er ist ja so ein niedlicher Kerl." Das sagt man, obwohl man durchaus noch die Katastrophe vom letzten verpatzten Gartenfest im Gedächtnis hat. Der Lumpi, der keine Erziehung genossen hat, musste weggesperrt werden, weil er den Gästen praktisch auf den Teller hüpfte. Frauchen und Herrchen amüsierten sich derweilen prachtvoll – sie waren das Verhalten wohl gewohnt. Und trotzdem hört sich der entsetzte Mensch sagen, dass er den Hund süß findet und macht somit fest, dass seine Wochenend-Party ausgehebelt wird.
Angenommen, der bedauernswerte Grillfest-Fan würde nun einfach die Wahrheit sagen – höflich aber bestimmt. Entweder sehen die Hundebesitzer das ein und lassen das Tier zuhause, oder aber sie sind beleidigt und werden sich in Zukunft auf kühle Grüße beim Vorbeigehen beschränken. Die Frage ist, was man verloren hat, wenn der zweite Fall eintritt. Es lohnt auf jeden Fall, sich die Situation in allen Konsequenzen vorzustellen. Man verliert in dem beschriebenen oder ähnlichen Fall nichts, sondern gewinnt. Und zwar ein ungestörtes Fest, ob nun mit oder ohne den Hundefreunden.
Wer etwas nicht möchte, kann das sagen – er hat das Recht dazu. Das gilt auch für das Äußern der Meinung und des Empfindens. Man muss unterscheiden lernen, ob die Wahrheit tatsächlich schmerzhaft für den anderen wäre, was ein sehr taktvolles Vorgehen wirklich nötig macht – vielleicht auch eine Unwahrheit, bis die Gelegenheit günstiger ist oder ob das Gegenüber die Lüge geradezu einfordert. In diesem Fall ist es an uns, sich nicht auf das Spiel einzulassen. Wenn wir, wo immer wir können, das Lügen vermeiden, vermeiden wir Probleme.
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© "Wahrheit und Unwahrheit: Lügen haben kurze Beine": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Illustration: Thomas Alwin Müller, littleART.
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