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Unordnung oder Ordnung?
In etwa zwei Stunden kommt Besuch und es sieht aus, als hätte eine Stammesfehde hier stattgefunden – oder ein kleiner Krieg ... zumindest hat man den Eindruck. Also so schnell es geht so viel wie möglich aufräumen.
Man hat nur wenige Möglichkeiten – man arbeitet "für das Auge" und stopft in alles, das über einen Hohlraum verfügt, was immer hinein geht, hinein. Dann muss nur noch die Staubschicht entfernt werden und schon sieht das Ganze recht manierlich aus. Bei genauer Betrachtung hat man eigentlich nur diese eine Option, denn für alles andere ist es zu spät.
Nach dieser hektischen Flurbereinigung muss nur noch in aller Eile das Bad saubergemacht werden, was bedeutet, dass verschlusslose Tuben und andere Behälter, die sich an Becken- und Wannenrand scheinbar fröhlich und ganz von allein vermehrt haben, eingesammelt und schön nach Material getrennt entsorgt werden müssen. Im Eiltempo dann die längst fällige Urinstein-Behandlung für die Kloschüssel. Wieso landet die Zahncreme eigentlich immer auf dem Spiegel – und was sind das überhaupt für Flecken auf dem Glas?
Das, wovon man glaubte, dass es einige wenige Handgriffe werden würden, entwickelt sich vor den Augen zu einer Riesenarbeit. Man fängt an, schnell den Wannenrand abzuwischen, wobei das Auge auf die zugestaubten Verschlüsse selten gebrauchter Mittel wie Abflussreinigern fällt.
Gerade jetzt passiert das, was immer passiert: Man weiß nicht mehr, wo man anfangen soll und sieht sich vor einer riesigen Aufgabe. Man fragt sich, wieso zum Teufel man eigentlich nicht schon längst den kleinen Treteimer mit den gebrauchten Wattepads, Rasierklingen und anderen Dingen geleert hat. Den Gang hätte man sich zu diesem Zeitpunkt ersparen können – jetzt, wo es jede Sekunde klingeln kann. Gute Frage – wieso hat man eigentlich nicht?
Empfindliche Gemüter versuchen spätestens jetzt ihr gemütliches Chaos mit den Augen eines unschuldigen Besuchers zu sehen und verzweifeln. Man weiß selber einigermaßen genau, wieso die kleinen Zettel und die Kugelschreiber in der Obstschale liegen und etwa drei Paar Schuhe vor der Couch ... und nicht im Schuhschrank des Flurs. Besucher wissen es jedoch nicht und denken vielleicht etwas Falsches. Was dieses "Falsche" im Einzelnen sein könnte, darüber will man gar nicht nachdenken – es geht vermutlich in Richtung von Wörtern wie "schlampig" oder "faul". In extremen Fällen sogar "schmutzig".
Als es dann wirklich klingelt, kann von einem entspannten Besuch nicht die Rede sein. Der Gastgeber hat ein schlechtes Gewissen und entschuldigt sich für alles und jedes. Der Besucher, der an völlig andere Dinge wie Unordnung denkt, fühlt sich nicht besonders wohl. Irgendwie bringt man die Zeit hinter sich – und schwört sich selber Besserung ... bis zum nächsten Mal.
Die Zeiten in denen Schwiegermütter mit weiß behandschuhten Händen über Möbel wischten, um die Staubfreiheit zu prüfen, sind wahrscheinlich vorbei. Spindkontrolle gibt es nur beim Militär, Gesetzestexte über das Aufbewahren von Schuhen und sonstigen Dingen existieren nicht, und überhaupt sollte man in seinem ureigensten Bereich – der Wohnung – vor jeder Fremdbestimmung sicher sein. Trotzdem stehen viele Menschen gerade hier unter einem enormen Druck, den sie selber mit überzogenen Erwartungshaltungen verstärken.
Das liegt vor allem daran, dass die viel besungene "Sauberkeit" nicht als Zustandsbeschreibung, sondern als Charaktereigenschaft wahrgenommen wird. Es gilt als Tugend, allezeit in hygienischen und völlig aufgeräumten Zimmern zu leben – obwohl das praktisch gesehen unmöglich ist. Ein Single, der gänzlich ohne Hobbys auskommt, und die meiste Zeit des Tages nicht in seiner Wohnung weilt, könnte diesem Ideal einigermaßen nahe kommen. Aber auch nur dann, wenn seine Besitztümer sich auf das unabdingbar Notwendige beschränken.
Ein Mensch, der mehr als drei Umzugskisten braucht, hat es da nicht ganz so einfach. Wir besitzen viele Dinge, Bücher und Nippes, Erinnerungsstücke, Dekorationsobjekte und natürlich auch Haustiere. Letztere sind zwar durchaus nicht so unhygienisch, wie uns die Sterilitätsfans weismachen wollen, aber mehr Aufwand bedeuten sie allemal. Dafür sind sie, wie wissenschaftliche Erhebungen zeigen, gut für unser Nervenkostüm, das durch nörgelnde Sauberkeitsfanatiker etwas dünn geworden ist. Und trotz bester Staubsauger – und einer Vielzahl von Kämmen und Bürsten – wird man den Kampf gegen herumliegende Tierhaare nie ganz gewinnen können. Die kleinen Steinchen aus dem Katzenklo verirren sich hin und wieder auf den frisch geputzten Boden, und das Spielzeug der haarigen Lieblinge findet sich an den unmöglichsten Stellen wieder. Und wer Schränke vorrückt, weil er umzieht, weiß plötzlich, wohin die immer wieder gekauften Gummibälle und Spielmäuse verschwinden.
Bis jetzt war die Rede von Einzelpersonen, aber wenn es um Familien geht, ist der Kampf gegen das Chaos nicht zu gewinnen – es kann kaum ein Unentschieden erzielt werden. Wer Kinder hat, muss wählen zwischen kreativen, gut gelaunten und sich gut entwickelnden Sprösslingen – oder einer aufgeräumten Wohnung. Letztere erzielen die Eltern nur durch Tricks, wie zum Beispiel das morgendliche Rausschicken zum Spielen mit den Worten: "Kommt nur rein, wenn ihr blutet oder die Sonne untergeht." Oder aber mit erbarmungslosem Drill in Bezug auf Ordnung.
Es liegt nicht in der Natur eines Kindes, schon beim Herbeiräumen der Spielsachen an das spätere Aufräumen zu denken. Es wird sich mit den Sachen befassen und sie natürlich liegenlassen, wenn es spontan etwas anderes tun will. Das ist nun einmal nicht anders und kann kaum geändert werden. Kluge Eltern veranstalten am Abend so etwas wie ein spielerisches gemeinsames Aufräumen in bescheidenem Maße – dumme Eltern bringen es durch Zwang soweit, dass es zwar ordentlich aussieht, aber kein Kind mehr groß zu irgendetwas Lust hat.
Handabdrücke in vielen Variationen, von Marmelade bis Schokolade, finden sich in einem Haushalt mit Kindern überall – natürlich kann man Stunden damit zubringen, sie zu jagen und zu eliminieren, die Flecken. Aber die Zeit nach der Arbeit oder anderen Verpflichtungen sollte vor allem der Familie gehören, nicht dem Saubermachen. Das kann mit entsprechender Planung auf bestimmte Tage verlegt werden, an denen alle mithelfen. Mit den Kindern auf der Couch kuscheln oder spielen geht ebenso gut, wenn die Kühlschranktür nicht klinisch sauber ist.
Wenn die Kleinen später einmal von ihrer Kindheit erzählen, klingt es wahrscheinlich besser, wenn sie von den gemeinsamen Abenden oder Unternehmungen mit den Eltern schwärmen, als von der wunderbar sauberen Wohnung. Hier kommt es darauf an, zu verstehen, was in der Natur der Sache liegt. Klebrige Türklinken oder Tischecken fallen nicht in die Kategorie "Schmutz" – man wischt es eben ab ... und damit hat es sich. Unsere Zeit sollte uns zu schade sein, um lange darüber zu lamentieren.
Vielleicht könnte man die Sache einmal genauer beleuchten, denn es ist durchaus möglich, dass in einem sterilen Raum viele saubere Dinge herumliegen. Das wäre dann zwar kein schmutziger Raum, aber ein unordentlicher. Umgekehrt gibt es schmierige Türen, Polster und Scheiben auch in extrem aufgeräumten Zimmern – ordentlich aber dreckig. Zur Falle wird es dann, begreift man "aufgeräumt" als "sauber" und umgekehrt. So wird also eine Wohnung, in der die Dinge ohne erkennbares System herumliegen, als schmutzig wahrgenommen, obwohl das völlig unlogisch ist.
Darüber hinaus wurde lange Zeit die Sauberkeit mit integrem Charakter gleichgesetzt. "Schmutzig sind keine anständigen Leute." Wer das so sieht, sollte sich vielleicht einmal vor Augen halten, dass die Gemächer von Diktatoren wahrscheinlich ein Muster an Sauberkeit und Ordnung sind. Sauberkeit ist unverzichtbar, muss allerdings nicht zur krankhaften Sucht nach Keimfreiheit ausarten. Es gehen keine Gefahren von den Kekskrümeln unter dem Tisch oder dem Fingerabdruck auf dem Spiegel aus, ebenso wenig drohen Seuchen, wenn nur einmal in der Woche der Staubsauger angeworfen wird.
Was wo in einer Wohnung herumliegt, muss dem betreffenden Menschen überlassen sein – mancher fühlt sich ernsthaft bedroht durch ein oder zwei Kaffeetassen, die auf dem Schreibtisch stehen, andere mögen sterile Ordnung nicht.
Wenn man also wieder einmal Besuch bekommt und die Stühle sind mit Klamotten belagert ... bewahren Sie die Ruhe. Der Besuch gilt Ihnen, nicht der Wohnung. Falls aber doch, vergeben Sie an diese Leute keine Termine mehr.
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© "Klar Schiff – Putzteufel contra Dreckspatz": Textbeitrag und Abbildung von Winfried Brumma (Pressenet), 2011.
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