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Ich habe eine Bekannte, die schon kurz nach Ostern seufzend sagt: "Jetzt ist ja schon wieder bald Weihnachten." Meist sagt dann einer ihrer Zuhörer: "Lisa, du übertreibst." Aber spätestens im Herbst weiß man, dass Lisa überhaupt nicht übertrieben hat. Und dann denkt man noch: "Wo zum Teufel ist nur dieses Jahr geblieben?" Irgendwie scheint es sich vorbeigeschlichen zu haben, oder vielleicht hat der Kalender auf Zeitraffer umgestellt, denn tatsächlich war es doch eben noch Ostern.
Als wir klein waren, da schien so ein Jahr ganz unglaublich lang zu sein. Allein die Jahreszeiten dauerten sehr viel länger. So ein Sommer schien nie zu Ende zu gehen – die großen Ferien entwöhnten einen richtig vom Schulbetrieb. Eine dieser unangenehm wahren Binsenweisheiten besagt, dass die Zeit schneller verfliegt, je älter man wird – und tatsächlich scheint das so zu sein. Dabei sitzen wir einer Art Wahrnehmungstäuschung auf – denn ein Jahr ist nun einmal ein Jahr und verändert sich nicht, was die Dauer betrifft. Was sich allerdings verändert, ist das Gefühl für Zeit.
Kleinere Kinder haben zwar durchaus ein Zeitgefühl, aber mit der Zeitmessung können sie nichts anfangen. Sie richten sich nach den Bedürfnissen ihres Körpers – oder würden das tun, wenn man sie nur lassen würde. Allerdings werden sie mit dem Tag ihrer Geburt an unser Zeitsystem angepasst. Erwachsene können meist so gar nicht verstehen, dass man eine nachmittägliche Schlafpause nicht erzwingen kann und dass kein Kind müde wird, nur weil es 19 Uhr ist. Trotzdem müssen sich die Kleinen daran halten – wahrscheinlich eher, weil Mama und Papa Ruhe nötig haben oder auch mal Feierabend machen wollen. Meist trifft man sich da in der Mitte, was die Sache für alle Beteiligten erträglich macht.
Jeder kennt quengelnde Kinder, die auf dem Rücksitz so etwa alle drei Minuten fragen: "Sind wir bald dahaaa?" Sie können mit dem unwirsch gebrummelten "Noch eine halbe Stunde" nichts anfangen. "Bald" heißt bei ihnen: erkennbar – also das Ziel sehen, oder etwas, das darauf hinweist. Wenn größere Feste wie Ostern oder Weihnachten wahrgenommen werden sollen, kann man nur schwer eine Zeitangabe machen. Deshalb sind Adventskalender so eine gute Idee ... jedes Türchen bedeutet eine überstandene Nacht voller Vorfreude. Damit kann ein Kind eher etwas anfangen: "Noch dreimal schlafen, dann kommt das Christkind."
Mancher sagt auch: "Kinder haben nicht so viele Sorgen und Verpflichtungen." Das stimmt aber so nicht – auch die Kleinen haben Ängste. Nur haben sie noch nicht gelernt, an alles die Kalenderschablone anzulegen. Von Monaten und Jahreszeiten haben Kinder kaum eine Vorstellung – sie nehmen den Ablauf der Zeit völlig anders wahr.
Ein in das Spiel versunkenes Kind befindet sich in einem zeitlosen Raum – das ist bei Erwachsenen nicht anders. Sobald wir hochkonzentriert etwas tun, vergessen wir die messbare Zeit. "Mein Gott, schon so spät" – diesen Ausspruch kennt jeder. Das funktioniert auch umgekehrt – etwa beim Arzt im Wartezimmer oder einer eher langweiligen Verrichtung. Da überrascht eher, wie wenig Zeit vergangen ist. Dieses "relative Wahrnehmen" empfinden auch Kinder, aber wir Erwachsene machen unser Leben an anderen Dingen fest: wir warten nicht mehr auf Weihnachten, sondern wir rechnen unser Leben nach Wochentagen und Datumsanzeigen durch.
Mit einem sorgenvollen Blick auf die Finanzen erwartet man den nächsten Ersten, und ein Arzttermin in zwei Wochen macht vielleicht auch etwas Angst. Der Garten wird nach dem Kalender besorgt, ebenso bedeutet Herbst, dass man den Streusalzvorrat überprüfen muss. Man macht die Wurfleine am nächsten Termin fest und hangelt sich daran zum nächsten festgelegten Zeitpunkt. Ein solcherart aufgeräumtes und auf Termine zusammengefaltetes Jahr ist wirklich kürzer – schon allein, weil man genau die Zeit, die den Kindern zu lang wird, einfach nicht hat.
"In vier Wochen ist Geburtstag / Firmenjubiläum etc., und ich habe noch kein Geschenk ...", das ist der Teufel, der im Termindetail steckt. Wenn ein Fest Angst macht, läuft irgendetwas falsch – man ist dabei, es eher wie eine Prüfung zu absolvieren. Man genießt nicht diese ganz besondere Zeit. Und wenn der tatsächliche Anlass kleiner erscheint, als wie die sich häufenden Verpflichtungen dazu, sollte man sich Gedanken über den Sinn der ganzen Angelegenheit machen.
Im Ernst – was kommt Ihnen zuerst in den Sinn, wenn Sie an Weihnachten denken? Lange Schlangen vor den Kassen und die fällige Hetze vor den Feiertagen, oder eine eher besinnlich gemütliche Zeit? Ist ersteres der Fall, machen Sie etwas falsch. Sie haben sich die Freude nehmen lassen von Äußerlichkeiten und selbstauferlegten Pflichten und glauben, den Kalender im Genick zu haben. Besser wäre es, sich "die Zeit lang werden zu lassen", so wie früher. Der Versuch lohnt sich auf jeden Fall.
© "Die Relativität der Zeit": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Die Abbildung zeigt eine Uhr: "Fünf vor Zwölf"; Quelle: Johannes Löw, Lizenz: Creative Commons.
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