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Er ist immer abrufbar. Er verlässt jede Party, um seinem Freund zu Hilfe zu eilen, der mit leerem Tank irgendwo an der Landstraße steht und eine SMS geschickt hat. Dieser Freund hat zwei linke Hände oder zehn Daumen, wenn es darum geht, Lampen anzubringen, den Ölstand zu messen, oder finanzielle Probleme, bis das Gehalt gebucht ist. Er macht ohne viel Aufhebens den Chauffeur, wenn das Auto seines Freundes in der Werkstatt steht – ohne irgendetwas dafür zu verlangen.
Er ist derselbe Samariter wie die Frau, die immer bereit ist, auf die Kinder ihrer Freundinnen oder die der Familienangehörigen aufzupassen, wenn die "etwas vorhaben". Sie reagiert sofort auf jeden Anruf ihrer Lieben – ob nun verwandt oder nicht – und eilt zur Rettung, denn das ist ihr Metier. Keine Frage, dass sie ihre Kleider verleiht oder ihren Schmuck, auf ihren Urlaub verzichtet oder irgendwohin fährt, wo sie den Dackel ihrer Freundin mitnehmen kann, weil diese in London weilt, und man eher eine Wasserstoffbombe nach Großbritannien einführen kann als einen Hund. Außerdem hat sie immer Aspirin oder Hustensaft und ist weitaus besser als die Nachtapotheke – denn sie bringt das Zeug sogar vorbei.
Man kann beide Varianten, die weibliche wie die männliche, auch mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißen, wenn man Liebeskummer hat, sich so richtig ausheulen will oder sich einfach nur langweilt. Alle sind zufrieden und lange Zeit findet niemand etwas dabei – bis unserem Märtyrer in Sachen Freundschaft etwas auffällt. Er darf zwar aushelfen, wann immer es notwendig ist, aber zu jeder Party wird er trotzdem nicht eingeladen. Ist sein Auto kaputt, erreicht er entweder keinen seiner Freunde, oder aber sie haben mindestens tausend gute Gründe, um ihm gerade jetzt nicht helfen zu können – sonst natürlich gerne, er müsse sich nur melden. Tut er es, kriegt er nur die Mailbox ran.
Das gilt in ähnlicher Weise auch für die Frau mit dem angehenden Helfersyndrom, denn sonderbarerweise kann gerade keine ihrer Freundinnen mal eben eine Stunde auf die Kinder Acht geben – entweder, weil sich sehr wichtiger Besuch angesagt hat, oder sonst etwas, das kinderinkompatibel ist. Auch hier enden alle Hoffnungen, wenn die Mailbox sich meldet. Irgendwann nun platzt auch dem Geduldigsten der Kragen, und obwohl sich die Helfer in der Not erst einmal die vielen Absagen schönreden wollen, kommt doch so etwas wie Unmut auf.
Und dann gibt es zwei Varianten. Bei der ersten werden die Verweigerer des Freundschaftsdienstes zur Rede gestellt, was meist einen fürchterlichen Streit zur Folge hat und damit endet, dass der Samariter als Ausbeuter betrachtet wird. Die Sprachlosigkeit ob dieser Umkehrung führt dann meist zu einem Sieg nach Punkten für die Gegenseite und beendet jedwede Beziehung.
Bei der zweiten Möglichkeit hält sich der Abgewiesene erst einmal zurück, um allerdings beim nächsten Hilfeersuchen an sich zu denken – daran vielleicht, dass er müde ist nach dem Job und keine Lust auf einen Radwechsel hat, oder dass ein Familienausflug ins Museum geplant ist und da keine Hunde reindürfen. Diese zweite Variante ist sehr interessant, weil die Geschwindigkeit, in der freundliche Schmeicheleien zu unkontrolliertem Jammern oder aasigen Bemerkungen werden, rasanter ist als gedacht. Erbittert wird dann meist auch wahrgenommen, dass diejenigen im Freundeskreis oder der Familie, die niemals sofort den Nothilfekoffer packen, weitaus besser angesehen sind als der unermüdliche Helfer.
Gekrönt wird das Ganze durch die Vorwürfe, die allerdings über mehrere Umwege kommen und die oft das Wort "Egoismus" beinhalten. Wer das kennt, gehört meist zu denjenigen, die viel zu lange gewartet haben, um sich von der Fron der so genannten Freundschaft freizumachen. Tatsächlich reagieren manche Zeitgenossen ungeduldig bis wütend, steht man plötzlich nicht mehr uneingeschränkt zur Verfügung.
Wie es dazu kommen konnte, ist meist klar: man will geschätzt werden, und man ist vielleicht auch zu leichtgläubig und nimmt jedes Mal eine tatsächliche Notlage an. Das trifft bei einer Autopanne vermutlich wirklich zu, aber auch hier sollte man prüfen, ob die Kumpels auch die Nummer einer Werkstatt gespeichert haben, und nicht etwa gar nicht daran denken, auch einmal kostenpflichtige Hilfe in Anspruch zu nehmen, oder auch einmal jemand anderen zu stören.
Vielleicht ist es einfach nur bequem, die Kinder abzuladen, weil man ohne sie shoppen gehen möchte. Wie auch immer, wer zu lange wartet, um auch einmal "nein" zu sagen, macht sich keine Freunde – oder besser gesagt, erlebt einen erstaunlichen Sinneswandel bei denen, die er dafür hielt. Und ist zu einem großen Teil mitschuldig, denn Menschen neigen nun einmal zur Bequemlichkeit. Wer nach Jahren der Verfügbarkeit plötzlich "verweigert", stößt auf echtes Unverständnis – auch wenn der Grund dafür reiner Egoismus ist. Er hat sich einfach niemals als ernst zu nehmende Persönlichkeit dargestellt – was Wunder, dass niemand sich die Mühe machte, den Menschen hinter dem so leicht benutzbaren "guten Geist" zu sehen. Vorbeugen ist eine sehr gute Maßnahme, um dem zu entgehen.
Jeder sollte prüfen, ob er wirklich hilft, oder ob er jemandem einfach nur das Leben erleichtert. Letzteres wäre keine wirkliche Unterstützung. Ist die Spur schon lange eingefahren, dann sollte damit begonnen werden, genau hinzusehen und tatsächlich auch abzulehnen. Der Sturm, der vielleicht folgt, wird als letzte Konsequenz beim Erkennen richtiger Freunde helfen, denn das sind diejenigen, die bleiben werden. Um die anderen ist es nicht schade – nur um die verlorene Zeit.
© "Das Los der Samariter": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. das Bild zeigt den "Barmherzigen Samariter" von George Frederic Watts, 1817–1904, Lizenz: gemeinfrei.
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