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Jeder kennt diese Unterscheidungen, es gibt sie als Psychotests in Zeitschriften, man begegnet ihnen bei jedem Persönlichkeits-Coaching und man ist immer derjenige, der es falsch macht. Es geht darum, in welcher Zeitphase man lebt – wir sprechen hier von der "gefühlten" Zeit. Negativ auf die Gefühlslage wirken sich die Slogans aus: "Lebe JETZT, nur das "Hier und Heute" ist wichtig."
Glaubt man diesen gehäuften Empfehlungen, kann man nicht umhin zuzugeben, dass man an seinem Zeitverständnis arbeiten sollte. In Vergangenem schwelgen? Falsch! Sich Sorgen um den morgigen Tag machen? Auch falsch! Nur das, was jetzt ist, sollte gelebt und genossen werden. Sonst drohen massive psychische Probleme und außerdem Krankheiten. Das hört sich gut an, beziehungsweise liest sich recht nett – kommt aber nicht nur bei Standardwerken für Lebenshilfe vor, sondern auch bei "Ex-und-hopp-Romanen". Da flüstert der Held mit betörend sanfter Stimme in das zarte Ohr der Heldin: "Denk nicht an das Morgen ... nur das Jetzt zählt." Und wenn sie Glück hat, die Schöne, klingelt auch nicht justament das Handy oder der Küchentimer – beides wäre der Romantik recht abträglich.
Außerhalb dieser Hefte besteht diese besondere Zeitphase aus hektischen Blicken auf die Uhr, weil man im Geiste schon ausrechnet, ob man es noch zum Supermarkt schafft, wenn man die Firma verlassen hat. Ein Teil des multitasking-fähigen Gehirns weilt gleichzeitig in der jüngsten Vergangenheit, nämlich bei der Frage, ob man auch den Backofen ausgeschaltet und ob der Hund auch Wasser in der Schüssel hat. Genießen kann man diese halbe Stunde vor dem Feierabend eher weniger und muss es in die nächste Zukunft verschieben, ob das nun "Pfui" ist oder nicht.
Wie immer der Tag auch ausgesehen hat ... ist man endlich am heimischen Herd angekommen, wird man wahrscheinlich immer noch nicht fähig sein, sich an der Gegenwart festzukrallen, weil man gedanklich noch im gerade abgeschlossenen Arbeitstag weilt. Damit ist die Arbeit gemeint, die dem Brötchenerwerb dient, denn es geht ja gleich weiter damit. Beim Abendbrot den Hund im Auge behalten, in der Hoffnung, dass er es sich verkneift, eine Pfütze auf das Laminat zu machen, weil man noch nicht Gassi war, gehört zwar indirekt in die Zukunft, ist aber verständlich.
Die Fragen am Tisch nach dem Tag des Ehepartners und der Kinder sind eigentlich Vergangenheitsbewältigung, zeigen andererseits aber auch Anteilnahme und gehören zum sozialen Ritual in einer Familie. Dieses kann nicht zugunsten radikaler Veränderungen gestrichen werden, da sonst Vereinsamung droht. Übrigens gehen auch hier die Zeiten ineinander über, denn wahrscheinlich kommt die Familie dann zu den Absprachen für den nächsten Tag, bevor sich jeder in seine Freizeitecke zurückzieht. Wer muss wen wo abholen, und wer muss wann was besorgen, und so weiter und so fort.
Irgendwann ist dann jemand mit dem Hund draußen und lässt nicht nur den bald endenden Tag, sondern auch schon den nächsten im Kopf entstehen. Die absolute Jetztzeit bestand bis hierhin zum großen Teil aus automatischen Verrichtungen und sachbezogenen Gedankengängen, die es ermöglichten, die Arbeit zu erledigen. Das Gehirn kennt die Gegenwart wahrscheinlich überhaupt nicht, denn wenn es auch nur Millisekunden braucht, ist so etwas wie Planung notwendig – und sei es auch für die nächsten Muskelbewegungen.
Wie auch immer, alles hat ein Ende, und jeder ist da, wo er letztendlich auch sein wollte: vor dem TV, dem PC, oder hinter einem Buch vielleicht. Und dann machen die Gedanken erst recht, was sie wollen, denn auf einmal erinnert die Sängerin im Film an Tante Evi, die immer so schrill geschimpft hat und der magische Zeittunnel nimmt einen mit in die Kindheit. Die Kinder vor dem PC-Spiel planen für die Zukunft schon mal ihre Waschbrettbäuche und Oberarmmuskulatur, oder auch ihre Modelkarriere.
Man denkt an die Aussetzer der Zündung in der Familienkutsche und macht einen Riesensprung in das nächste Jahr, wo der alte Wagen durch einen neuen ersetzt werden soll. Selbst der kleine Gedanke an das Zubettgehen nach dem Krimi ist Zukunftsplanung, auch wenn ein Teil der Aufmerksamkeit mit dem Opfer zittert und dem Kommissar auf die Sprünge hilft. Und wenn man dann in den verdienten Schlaf sinkt, macht das Unterbewusstsein so richtig ein Fass auf, lässt in seiner eigenen Symbolik den Tag noch einmal durchlaufen und komplettiert mit unbewältigten Kindheitsängsten sowie Zukunftssorgen.
"Also", möchte man die vielen Coachs und Ratgeber fragen, "wann ist denn nun das Hier und Jetzt, das man leben und genießen kann?" Die Antwort darauf könnte vielleicht lauten: das Hier und Jetzt ist da, wo Du bist. Was Du dabei tust und in welcher formalen Zeit sich Dein Geist dabei befindet, spielt keine Rolle. Auf der Couch lümmeln, nichts tun und dabei an vergangene schöne Zeiten denken, oder mit Spaß und Phantasie die Zukunft ausmalen – das ist wohltuend und mit Sicherheit auch heilend.
Fixiertheit auf den problembeladenen Moment ist im Gegenzug nicht sehr förderlich – wenn auch notwendig. Es ist – außer bei hochkonzentriertem Arbeiten – kaum möglich, eine konstante Gegenwart herzustellen – und wenn, dann ist der Spaßfaktor nicht unbedingt sehr hoch. Sobald man aber den gedanklichen Fixpunkt verlässt, wird der Geist vierdimensional wirken, geht man von der vierten Dimension als der Zeit aus.
Einen neutralen Punkt erreicht man bei Meditation vielleicht, aber das wiederum ist eine andere Dimension. Das Freuen und auch das Sorgen auf oder um das Morgen gehört zum Mensch-Sein – ebenso wie das Trauern und die Freude, die aus dem Gestern kommt. Natürlich ist es sinnlos, immer wieder an vergangene Schmerzen zu rühren und so den Heilungsprozess zu stören – aber traumatische Erlebnisse wirken in Gegenwart und Zukunft gleich.
Aber es ist nichts Falsches oder "Kontraproduktives" dabei, sich an vergangenem Schönem zu freuen. Hätte es keinen Sinn, könnten wir es nicht. Man kann sich freuen auf das, was kommt – aber natürlich sorgt man sich oft darum. Das ist allerdings etwas, das schützt. Was wir erfahren haben, wenden wir an, für jetzt und für die Zukunft.
Nur die Gegenwart als Modell für das Leben zu akzeptieren, würde alle Erfahrungswerte wertlos machen, und somit die Zukunft mehr als fraglich. Loslassen können hat damit eigentlich nichts zu tun – denn lösen sollte man sich wohl öfter vom momentanen Druck. Und nur ein Schrittchen zurück bedeutet eine andere Sicht auf das Problem, bei dessen Bewältigung wieder die Erfahrung helfen könnte ... oder sogar die Hoffnung.
© "Morgen wird das Heute schon wieder Gestern sein": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Die Abbildung zeigt eine Uhr: "Fünf vor Zwölf", Quelle: Johannes Löw, Lizenz: Creative Commons
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