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Gunther Bertram saß in Nizza in einem Café und rührte missmutig in seinem Kaffee. In letzter Zeit lief alles schief. Auch hier musste er sehr vorsichtig sein. In Deutschland, Österreich und in der Schweiz durfte er sich nicht mehr blicken lassen, denn da wurde er von der Polizei gesucht. Er hatte älteren, alleinstehenden, reichen Damen die Ehe versprochen. Er log ihnen vor, selbst reich zu sein. Tatsächlich besaß er nichts außer gutem Aussehen, jeder Menge Charme und vollendeten Manieren.
Seine Eltern waren lange verheiratet und wünschten sich sehnlichst ein Kind. Sie waren beide schon über vierzig Jahre alt, als er geboren wurde. Entsprechend wurde er verwöhnt und verzogen. Das Beste war für ihn gerade gut genug. In die Schule wollte er nicht. Von Schulen in Berlin war er geflogen, weil er sich Lehrern und Schülern gegenüber renitent und rüpelhaft benahm. Nachdem er fast alle Schulen Berlins durchhatte, nahm ihn keine Schule mehr auf. Sein Benehmen hatte sich herumgesprochen. Die Eltern beschlossen, ihn in ein Internat zu stecken. Dieses eine Mal blieben sie hart und schickten ihn, seiner Widerstände zum Trotz, in ein Internat, in das nur Kinder gut betuchter Eltern kamen. Lehrkräfte waren hervorragend und Gunter fand dort, nach anfänglichen Eingewöhnungsschwierigkeiten, seine Meister. Wider Erwarten wurde er ein guter Schüler, aber für sein Leben und seinen Lebensunterhalt zu sorgen lernte er nicht.
Wieder zurück in Berlin ließ er sich von seinen Eltern, hauptsächlich seiner Mutter, unterstützen bis zu ihrem Tod. Sie starb bald nach seiner Rückkehr an einem Herzinfarkt. Bei seinem Vater hatte er keinen leichten Stand. Dieser half ihm widerwillig und das Geld saß nicht mehr so locker wie bei der Mutter. Der Vater war der Meinung, Gunther solle für sich selbst sorgen. Doch dazu war es zu spät: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer. Als der Vater wenige Jahre nach der Mutter starb. War er endlich gezwungen, für sich selbst zu sorgen.
"Wozu gibt es ein Sozialamt?", mochte Gunther bei sich denken. Doch seine Besuche dort verliefen nicht sehr befriedigend. Der Mitarbeiter des Amtes stellte ihm unangenehme Fragen und sah ihn als asozial an. Aber schließlich bekam er doch noch den Mindestbetrag, von dem er nicht leben konnte, zugewiesen. Dazu bekam er noch harte Auflagen, sich nach einem Arbeitsplatz umzusehen. So versuchte er sich gezwungenermaßen in verschiedenen Berufen und brachte keinen Fuß auf den Boden. Ihm fehlte die Ausdauer und die Substanz, länger als wenige Wochen irgendwo zu arbeiten.
Schließlich übte er den Beruf eines Türstehers in einer vermeintlichen Edel-Disko aus, was ihm absolut nicht behagt, aber hier hielt er am längsten aus. Die Pöbeleien der Abgewiesenen konnte er nicht ertragen, wofür jeder Verständnis hatte. Als er mit Tatjana, einer aufregenden Exil-Russin angebändelt hatte, tauchte plötzlich deren Freund Sascha auf. Dieser boxte in der Berliner Boxstaffel, die in der Bundesliga immer auf den vordersten Plätzen zu finden war. Sascha war eine "sichere Bank" der Staffel und gewann alle Kämpfe mit K. o.
Nach einer Begegnung Gunthers mit Sascha konnte sich Gunther mehrere Tage nicht mehr in der Außenwelt blicken lassen. So lange dauerte es, bis seine zwei Veilchen und die anderen Blessuren, hauptsächlich seines Gesichts, abgeheilt waren. Dass er das Schmerzensgeld, das Sascha ihm per Gerichtsbeschluss zu zahlen hatte, wirklich erhalten hatte, wunderte ihn sehr. Allerdings war es schnell aufgebraucht und der damals 27-jährige zog von Berlin nach Essen in den Ruhrpott. Das Schmerzensgeld war auch eine Möglichkeit an Geld zu kommen. Natürlich wollte er sich nicht mehr zusammenschlagen lassen, aber es gab ja noch andere Möglichkeiten der Geldbeschaffung.
In den Beruf des Heiratsschwindlers war er nur zufällig hineingerutscht. Bei einer Tanzveranstaltung lernte er die reiche Fabrikantenwitwe Dagmar Gutmann kennen und stellte sich als Immobilienmakler vor. Sie war nur wenig älter als er, sah sehr gut aus und war sehr humorvoll. Was wollte da ein Mann denn noch mehr und Gunther war dabei, sich in sie zu verlieben. Doch bei weiteren Treffen stellte er fest, dass sie sich zu sehr an ihn klammerte und maßlos eifersüchtig war.
Nach einiger Zeit durfte er keinen Schritt mehr alleine tun. So beschloss er, aus ihrem Leben zu verschwinden, da er sich nicht fest binden wollte. Dagmar sprach schon von Heirat.
Hinweis: Diese Geschichte wurde erstmals in "Das Doppelleben des Harald G." veröffentlicht. In ihrer kleinen Anthologie erzählt die Autorin Ulla Schmid fünf Geschichten voller Romantik und überraschender Wendungen. Anders als ihre Romane, die im Alten Rom spielen, widmen sich die Kurzgeschichten unserer Gegenwart.
Das 70-seitige Taschenbuch "Das Doppelleben des Harald G." wurde 2010 vom Re Di Roma-Verlag herausgegeben (ISBN 978-3868701654). Die Anthologie gibt es auch als E-Book.
© "Der Heiratsschwindler: Nur zufällig hineingerutscht": Kurzgeschichte in drei Teilen von Autorin Ulla Schmid, 05/2019. Bildnachweis: Abstraktes Muster mit blau-weißen Herzen, CC0 (Public Domain Lizenz).
Alle Bücher von Ulla Schmid auf ihrer Autorenseite.
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