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Gefühle bestimmen, was oder vielmehr wer wir sind. Doch was wäre, wenn wir unfähig wären, die kleinsten Emotionen zu empfinden? Was, wenn wir weder Liebe noch Trauer, Freude oder Schrecken, Geborgenheit oder Sehnsucht, Hass oder Zuneigung spüren könnten?
In genau dieser Situation befindet sich der Protagonist in Tassilo Leitherers Roman "MenschSein". Gefühle sind ihm nicht nur fremd, er sieht sich sogar vollkommen außer Stande, die kleinsten Emotionen zu erleben oder sie zu verstehen. Bereits seit seiner Geburt fehlen ihm sämtliche Gefühle. Er passt sich an, um nicht aufzufallen. Er weiß, dass niemand ihn verstehen würde, ihn, ein Wesen, ausschließlich beherrscht von der kalten Logik. Die Welt geht nicht besonders wohlwollend mit Andersartigkeit um.
Gleichzeitig spürt der Protagonist eine Leere in sich, ihm fehlt der Sinn im Leben. Glück, so glaubt er, ist das Ziel; ohne Gefühle jedoch lässt sich Glück nicht erreichen. Aus diesem Grund unternimmt er alles, um seine Gefühle zu finden und sie zu entwickeln, und beschreitet dabei extreme Wege. Gelingt es ihm am Ende, das MenschSein zu erreichen?
"MenschSein", ein Roman von Tassilo Leitherer, wurde im Sommer 2018 veröffentlicht. Das 252-seitige Taschenbuch ist im Verlag tredition erschienen und auch als gebundene Ausgabe oder als E-Book erhältlich.
Eines Tages saß ich am Bett eines kleinen Jungen. Er litt an Krebs im Endstadium. Es war nicht wirklich zu sagen, wo der Krebs angefangen hatte. Er war überall. All seine Organe waren befallen. Ein vollkommen hoffnungsloser Fall.
Der Junge war neun Jahre alt. Er hieß Tobias. Er litt bereits seit mehr als zwei Jahren. Diese Zeit war ein einziger Kampf gewesen. Der unvermeidliche Ausgang seines Kampfes war von Beginn an klar gewesen. Der Krebs war schon bei seiner Entdeckung zu weit fortgeschritten, um an Heilung auch nur zu denken. Alle sprachen stets von Vorsorgeuntersuchungen, doch wer dachte bei einem so jungen Menschen schon an Vorsorge?
Der Junge hatte es von Beginn an gewusst. Tobias war sehr reif für sein Alter. Er machte sich Gedanken, die sich andere Kinder nicht machten. Zumindest ging ich davon aus. Viel Kontakt mit Kindern hatte ich schließlich nie gehabt. Er hatte mir in einem unserer Gespräche verraten, dass er nie für sich selbst gekämpft hatte. Sein ganzer Kampf, all seine Bemühungen galten seinen Eltern. Tobias spürte, wie sehr sie darunter litten, und sich insgeheim selbst die Schuld an seiner Krankheit gaben. Sein Aufbäumen gegen die Krankheit erleichterte es seinen Eltern, mit der Situation umzugehen.
"Ich werde sterben. Ich will sterben. Doch ich darf nicht sterben", sagte er mir.
"Warum?", fragte ich ihn.
"Weil es meinen Eltern wehtun würde", stellte er fest.
"Ich verstehe", erwiderte ich. "Aber wenn der Tag gekommen ist, an dem es sich nicht länger herausschieben lässt?"
Mit Tobias konnte man offen über den Tod reden. Überhaupt konnte man mit allen Todgeweihten ziemlich offen über das reden, was kommen würde. Sie wollten sich gar keine Illusionen über ihre Zukunft – die sie in Wahrheit nicht besaßen – machen. Todgeweihte waren Realisten. Das gefiel mir.
"Dann werde ich ihnen sagen, dass wir uns im Himmel wiedersehen werden", antwortete der Junge, ohne zu zögern.
"Glaubst du denn an den Himmel?", wollte ich wissen.
"Nein", sagte der Junge.
Die Ehrlichkeit des Jungen gefiel mir. Seine Rationalität gefiel mir. Er erinnerte mich ein wenig an mich selbst. Ich machte mir auch keine Illusionen über das, was nach meinem Tod kommen könnte. Er stützte zudem meine These: Todgeweihte fanden nicht zum Glauben, sie verloren ihn. Hieß das, dass sie auch ihre Gefühle verloren? Wenn ja, war der gesamte Versuch, all meine Mühen, die ich in das Hospiz gesteckt hatte, sinnlos.
"Warum erzählst du deinen Eltern dann so etwas?"
"Damit sie nicht die Hoffnung verlieren."
"Ich verstehe", sagte ich. In Wahrheit verstand ich nicht.
Ich verbrachte viel Zeit mit Tobias. Jeden Tag besuchte ich ihn und war nur dann nicht bei ihm, wenn seine Eltern gerade da waren. Diese konnten es sich nicht leisten, ihre Arbeit aufzugeben, und so besuchten sie Tobias am Abend, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig waren.
Tobias fand das in Ordnung so. "Wenn meine Eltern nicht da sind, brauche ich auch keine Maske zu tragen", meinte er.
"Bei mir ist das nicht nötig", versicherte ich ihm.
"Ich weiß", sagte der Junge. Tränen liefen ihm die Wangen herunter.
Er fing an zu weinen. Das war etwas, das er in Gesellschaft seiner Eltern niemals tat. Er wollte stark sein für sie. In meiner Gegenwart musste er nicht stark sein.
Ich nahm ihn in den Arm. Der Junge war nicht ansteckend. Ich strich mit meinen Händen über seinen Rücken. Sein Zucken übertrug sich auf mich. Ich konnte seine Verzweiflung spüren, sie aber nicht verstehen. Ich spürte absolut gar nichts. Zwei Tage später war der Junge tot. Im Augenblick seines Todes war ich nicht bei ihm gewesen. Das war das Privileg seiner Eltern. Kurz zuvor jedoch hatte er sich bei mir bedankt.
"Ich weiß, wer du bist", hatte er gesagt. Seine Stimme war schwach und brüchig. Ich war mir nicht sicher, ob er noch alle Sinne beieinander hatte oder bereits im Wahn sprach.
"Es ist ok", sagte er noch. Dann fiel er in einen unruhigen Schlaf. ...
Lesen Sie "MenschSein" als Taschenbuch, gebundene Ausgabe oder als E-Book.
© "Ein Mensch auf der Suche nach seinen Gefühlen": Dem Autor Tassilo Leitherer und dem Verlag tredition danken wir herzlich für das Coverbild und die Leseprobe aus "MenschSein", 08/2018.
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