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Sie hat mir nicht die schwachen Gelenke gegeben, die zu meiner neuen Gestalt passen würden, die Erhabene. Ich konnte im Wasser des Teiches bei Eumaios einen flüchtigen Blick auf mein Gesicht werfen und erschrak, denn mir sah ein Greis entgegen. Es ist ein Trugbild, nicht mehr – denn meine Glieder sind kraftvoll wie eh und je. Doch hielt sie es für nötig, die Olympierin, den Herrn der Insel unkenntlich zu machen für die Ankunft.
So betrat ich die Hütte des Hirten, der mir wohlbekannt war, wenngleich auch er sich verändert hatte in der ganzen langen Zeit. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte – wahrscheinlich erhoffte ich nach der ersehnten Heimkehr alles so vorzufinden, wie ich es verlassen hatte. In den langen Jahren, die ich fort gewesen bin, hat es nicht einen Tag gegeben, der mich nicht an diejenigen gemahnte, die ich liebe. Das kleine Kind, das ich stolz koste, wenn es in den Armen seiner schönen Mutter lag und zufrieden lächelte, war mir wie ein Talisman, der mich an eine Heimkehr glauben ließ.
Wenn ich tagsüber in Blut gewatet war bei den Schlachten, die wir schlugen vor der uneinnehmbaren Stadt des Priamos, rief ich mir im Zelt den Duft ins Gedächtnis, der meine Frau stets umgeben hat: Sandelholz und Rosen. Und plötzlich war die Luft davon gesättigt und ich vergaß den Gestank der Scheiterhaufen.
Als wir endlich die Schiffe bestiegen zur Heimfahrt, sah ich sie, meine Frau und meinen Sohn, auf den Kämmen der Wellen stehen und winken, ich war wie trunken von Freude und Hoffnung. Dass sie am Leben waren und alles seinen geregelten Gang nahm, wusste ich, dank der Boten, die zwar selten aber regelmäßig eintrafen. Die Welt blickte auf uns und wartete auf die Dinge, die geschehen würden, wenn die Stadt fallen sollte – und dass sie fallen würde, wusste ich. Aber dieser Dinge werden sich zweifellos die Sänger bemächtigen, und ihre Wahrheit wird alles übermalen, was wir – die wir doch dabei waren – wissen.
Vieler Dinge wegen zürnten mir Götter, und die Trugbilder auf den Wellen verblassten in all der Zeit, die ich unterwegs war – mit den Kameraden zuerst und dann allein. Besessenheit, Zauberei, Hunger, Durst und mehr, als Menschen sonst durchleben müssen, nahmen mir meine beruhigenden Träume von kleinen Kindern und Düften – der Salzgeruch der See war überall, und bald gab es nichts anderes mehr. Das Herz kann vergessen, oh ihr Götter, ebenso wie der Verstand es tut. "Heim nach Ithaka", dieser Gedanke wurde zu einem salzwassergetränkten Tau, an das ich mich mit aller Kraft klammerte, ohne mehr recht zu wissen, warum, und das ich doch nicht losließ.
Und so fand ich mich hier auf meiner Insel wieder, das zerfranste Tau meiner Hoffnung noch in den Händen, und war wie ein Fremder. Olivenbäume sind nichts weiter als Olivenbäume – Hügel nichts als Hügel. Und Athene führte mich zur Hütte des Eumaios, den ich nicht wiedererkannt hätte, wenn ich nicht gewusst hätte, wer er war. Er gehörte für mich zu einem Leben, das es nicht mehr gab, weil ich die Träume davon nicht mehr hatte. Aber dann kam der junge Mann, und als mir klar wurde, dass er dieses Kind war, das ich verließ vor zwanzig Jahren, erfasste ich, was wirklich geschehen war.
Irgendein Teil von mir glaubte, dass Telemachos noch ebenso unsicher auf seinen Beinchen umherstolpern würde – wie damals, als ich ihn verließ. Und er war mir fremd, selbst als die Göttin mir erlaubte, mich zu offenbaren und er mich weinend umarmte, blieb er mir noch fremd. Meine Augen sahen den schönen und starken Jüngling, der vor Freude strahlte, und erkannten vertraute Züge in seinem Gesicht – es erinnert an meinen Vater, obgleich er die Augen seiner Mutter hat. Und mein Herz suchte verzweifelt nach irgendetwas, das die verlorenen Jahre füllen könnte und fand nichts.
In der wenigen Zeit erzählte er mir so viel er vermochte, mein Sohn, der seinen ersten Speer warf, ohne dass ich dabei war, der mit seinen Sorgen und Kümmernissen nicht zu mir kommen konnte. Später erschien SIE mir und tröstete mich, denn sie kennt mein Herz. "Vertrau auf die Zeit, die kommen wird, Odysseus, dein Herz ist noch nicht erwacht, aber das wird geschehen." Und jetzt gehe ich den Pfad entlang, der zum Palast führt. Langsam und unsicher, wie es einem alten Bettler ansteht, steige ich hinauf. Die Gebäude tauchen vor mir auf, sie sind vertraut und doch fremd. Gerüche umwehen mich, Kochfeuer und bratendes Fleisch und auch Wein rieche ich.
Durch das erste Tor lassen sie mich, die Wachen mit den fremden Gesichtern. Der Vorhof ist mit mehr von "meinesgleichen" gefüllt, sie warten darauf, dass man ihnen etwas vom Übriggelassenen bringt. Mägde rennen hin und her, manche unter Kichern und mit rotem Kopf. Es sieht aus, als wäre das Haus des Königs eine riesige Schenke voller Freudenmädchen und ihrer Freier. Musik schrillt von den Terrassen drinnen, und ich drücke mich an eine Wand. Es gibt auch andere Diener. Solche, die mit gesenktem Kopf eilig ihre Aufgaben erfüllen und die keinen Anteil am Fest zu haben scheinen. Das alles nehme ich wahr, doch es dringt nicht bis an meine Seele – obwohl ich sehr wohl weiß, was in meinem Hause seit geraumer Zeit geschieht.
Diese Menschen hier, dieser Palast und dieses Fest. Ich habe kein Teil daran. Der Vorhof ist nicht so, wie meine vage Erinnerung ihn mir zeigt, er ist einfach ein fremder Hof. Da sehe ich, dass eine Magd einige Bettler mit sich winkt, durch eine weitere Tür. Diesen schließe ich mich an und komme in einen dachlosen großen Raum, in dem rohe Bänke stehen. Dort ist ein weiteres Mädchen damit beschäftigt, Brei in hölzerne Schüsseln zu füllen, die an uns weitergereicht werden. Ich nehme mit gesenktem Kopf den Napf entgegen und danke mit leiser Stimme, dann sehe ich mich unter gesenkten Lidern um.
An Spalieren winden sich Weinreben hoch und einige Ölkrüge stehen an der getünchten Mauer, ein kleiner Durchlass führt zu den Ställen. Ob wohl die Rosse der Besatzer des Palastes darin unterstehen? Eine Erinnerung steigt in mir hoch, ein Pferderennen am Strand und Penelope, die dem Sieger einen Kranz reicht. Ein blasses Bild ist es, aber es kommt von weit her und bleibt eine Weile. Ich habe Angst, sie zu sehen. Diejenige, an die ich dachte zwanzig Jahre lang und die, wie ich jetzt wohl weiß, nicht mehr die junge Frau ist, die mir vor Augen stand im Lager und auf meinen Fahrten. Man rühmt die Königin ob ihrer Treue und ihrer kaum verblassten Schönheit, aber wird mein Herz sie wiedererkennen?
So viel ist geschehen, so viel Zeit ist vergangen. Und was ist mit ihr, wartet ihre Seele noch immer oder ist es nichts als die Treue zu ihrem Haus und ihrer Pflicht. Ist es richtig, dass ich wiedergekommen bin oder wäre es besser, wenn ich die Insel unerkannt verlassen würde? Oder liegt das nicht mehr in meiner Hand? Wer bin ich nun nach all den Jahren? Kann ich noch der sein, der ich war, bevor das Schiff im Hafen Ithakas den Anker lichtete? Langsam löse ich mich von der Mauer, an der ich lehnte, mit der kleinen Schüssel in der Hand. Ich reiche sie einem zerlumpten Alten, der mich misstrauisch ansieht, dann aber rasch zugreift. Ich gehe unbemerkt in Richtung der Ställe, an den essenden Bettlern vorbei. Man bemerkt mich nicht, die Sonne ist schon tief gesunken und weiche Schatten legen sich über den Palast. Mein Ziel sind die Stallungen. Ich will sehen, wie viele Pferde sich darin befinden.
Auf dem Weg passiere ich zusammengescharrtes, schmutziges Stroh und bemerke eine Bewegung. Dann ein Schnaufen. Was ist es, das diese Geräusche macht? Etwas Dunkles liegt auf der Streu – etwas, das sich bewegt und schwer atmet. Ist es ein Mensch? Nein, nein, es sieht aus wie ein Hund. Rasch beuge ich mich hinunter, um das Tier zu beruhigen, damit es niemanden auf den Bettler aufmerksam macht, aber da leckt mir eine Zunge über die Hand. Das Tier ist freundlich, es wird keinen Alarm schlagen – aber es winselt so sonderbar, es klingt fast wie ein leises Heulen. Was ist mit dem Hund, ist er vielleicht verletzt oder krank?
Ich streiche über seinen Kopf und spüre etwas. Aber nein, das kann nicht sein. Eine wulstige, haarlose Narbe, die von einem Ohr in Richtung Kehle verläuft. Mein Hund Argos wurde vor vielen Jahren bei der Jagd von einem Keiler verletzt. Aber er ist doch sicher längst gestorben, so viel Zeit ist vergangen – kann es solch eine Verletzung ein zweites Mal geben? Aus dem Stall kommt ein Diener mit einer Fackel, warmes Licht fällt kurz auf das Tier, das immer noch meine Hand leckt, und ich sehe, dass es ein uralter Hund ist, zum Erbarmen abgemagert und mit Ungeziefer bedeckt, aber sein Blick dringt mir in das Herz: Es ist Argos.
Und ich merke erst, dass ich weine, als meine Tränen auf das Gesicht des alten Freundes fallen, und ich flüstere seinen Namen ein ums andere Mal: "Argos." Er wedelt matt mit seinem Schwanz, als er es hört, heißt mich zu Hause willkommen, dann streckt er sich ein letztes Mal und liegt still. Ich aber bleibe bei ihm sitzen, in mir steigt auf, was versiegt schien und nimmt alle Angst fort. Ich bin der, der ich bin und dies ist mein Haus – Odysseus ist zurückgekommen.
Mehr über Argos, den Jagdhund des Odysseus bei Wikipedia (Abbildung von Odysseus und Argos Lizenz: gemeinfrei)
© Mythologie "Argos und Odysseus" – eine Erzählung von Winfried Brumma (Pressenet), 2011.
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