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Der aufgehende Vollmond stand wie eine bleiche Münze über dem Wald und dem Hügel mit der Festung, zu der ein schmaler Pfad hinaufführte. Am Fuß des aufgeschütteten Hügels mit den Palisaden aus Flechtwerk drängten sich einige dürftig zusammengefügte Unterstände für das magere Vieh. In einiger Entfernung standen Hütten, die kaum besser aussahen, aber wohl von Menschen bewohnt waren.
Im Dämmerlicht des in die Nacht sinkenden Abends spannte sich Trostlosigkeit wie ein schmutziges Laken über das Bild und ließ den Wanderer, der eben den Wald verlassen hatte, die Schultern wie im jähen Frösteln heben. Es war kühl geworden, und die feuchte, torfige Luft machte den langen dunklen Umhang aus schwerem Wollstoff, den die Gestalt trug, klamm und unangenehm. Zudem begann es zu nieseln, und Eichensang zog die Kapuze über das mit einem einfachen Lederriemen zusammengefasste graue Haar.
Es war etwas Ungutes an diesem Ort, doch würden Kälte und Nässe für die Knochen noch um einiges schlechter sein, also ging es mit eiligem Schritt zu der Befestigung. Schon in einiger Entfernung war Licht zu sehen und Lärm zu hören, letzterer nahm mit jedem Schritt zu, ebenso wie der Gestank.
"He, wer da?" brüllte plötzlich eine barsche Stimme, und Eichensangs Augen wurden vom Licht einer Fackel geblendet. Ein rauer Griff an die Schulter, wüst nach Bier stinkender Atem und das Geräusch, das ein Schwert macht, das aus der Scheide gezogen wird. Eichensang schlug den Umhang ein wenig zur Seite und ließ die kleine Harfe sehen, die ein wenig aus der Lederhülle lugte. "Ich bin auf der Suche nach einem Nachtlager, aber ich möchte es nicht umsonst."
Schallendes Gelächter war die Antwort. "Ein Harfner, das wird Orfgar gefallen. Heute ist vielleicht dein Glückstag." Dann brüllte der Mann Befehle über die Schulter und zog Eichensang am Arm in den Innenhof. Angewidert ließ dieser die Augen über den riesigen Misthaufen wandern, den gerade zwei volltrunkene Kerle als Abtritt benutzten. "Das erklärt diesen Gestank", ging es durch Eichensangs Kopf, als zwei weitere Wachen auftauchten und ihn grob in Richtung des größten Gebäudes im Hof zogen. Es war ein großes Langhaus mit einem bis fast auf den Boden reichenden Strohdach, aus dessen offenen Luken Gegröle und Licht drangen.
Einer der Begleiter riss die in Lederangeln hängende, grob gezimmerte Holztür auf und stieß Eichensang über die Schwelle und mit wohl aufmunternd gemeinten derben Schubsern den langen Weg zu der riesigen Tafel, die an der Stirnseite der Halle stand. Tafel war ein zu vornehmes Wort für die breiten Planken, die man – eine an die andere – über mehrere Böcke gelegt hatte. Aber gut bestückt war das Bankett, denn auf den rohen Holzplatten türmten sich Braten, Käselaibe, Backwerk, und Krüge über Krüge. Wein und Bier vermischten sich in vielen Lachen und verströmten einen Geruch, der mit gebratenem Fleisch wetteifern konnte.
Eichensang sah aus den Augenwinkeln, dass der eine oder andere Zecher von der Sitzbank gekippt war und so lag, wie er gefallen war. Das alles waren Eindrücke, die einen Lidschlag dauerten, denn dann forderte eine gebieterische Stimme vollste Aufmerksamkeit: "Verneig dich, wenn du vor deinen Herrn trittst, Klimperer! Das ist Orfgars Halle, in der du dich befindest!" Diese Worte kamen von einem gewaltig dicken und ungeschlachten Kerl, der in der Mitte der Tischreihe geradezu thronte. Der Mann musste ein Riese sein, denn er überragte sogar im Sitzen alle anderen Männer. Graue, fast farblose Augen unter dünnen Brauen glotzten den Gast tückisch an. Auf dem Kopf trug dieser Hüne einen Wust zotteliger Haare, die nicht aussahen, als seien sie jemals gekämmt worden.
In Orfgars feiste Wangen stieg die Zornesröte, und so warf Eichensang mit großartiger Bewegung den Umhang zurück und nahm die Harfe vom Gürtel. "Ich grüße dich, Herr dieser großen Halle und der Marschen und biete meine Dienste an – dir zu Ehren." Begeistert schlug der dickwanstige Kerl auf das Holz und lachte aus vollem Hals. "Hört ihr, ihr Nichtsnutze? Der Zwitschervogel da hat Benehmen." Wiederum lachte Orfgar, und alle lachten mit ihm. "Heute ist mein Hochzeitstag, musst du wissen. Und meine liebe Frau und ich würden ein wenig Musik schätzen. Spiel also auf, und spiel gut. Beleidige meine Dame nicht durch Stümperei, Harfner ... sonst wirst du in Zukunft ohne Daumen deine Harfe zupfen müssen."
Mit diesen Worten riss Orfgar die neben ihm sitzende junge Frau an den Haaren zu sich heran und küsste sie laut schmatzend auf den Mund, bevor er sie unter Lachen wieder zurückstieß. Eichensang machte nicht den Versuch, in dem aufbrausenden Beifall und begeisterten Geplärre etwas zu erwidern, sondern verneigte sich elegant in Richtung des Mädchens, während er einen leichten Akkord auf den Saiten anschlug. Die Augen des Mädchens waren fast geschlossen, aber unter den Lidern quollen Tränen hervor, die helle Bahnen in dem von Ruß verschmutzten Gesicht hinterließen. Ein rascher Blick unter den gesenkten Lidern zeigte ein fast schwarz verfärbtes Auge und von Schlägen geschwollene Lippen.
Ohne eine Miene zu verziehen schob Eichensang die Kapuze etwas mehr aus dem Gesicht, so dass einige gelöste graue Strähnen sichtbar wurden und griff einen weiteren Akkord. Es wurde ruhiger in der Halle, und die meisten sahen erwartungsvoll zu der Gestalt mit der Harfe hin. Noch ein Akkord, eine weitere Tonsequenz, dann erklang ein altes Trinklied, schön begleitet von einer dunklen und warmen Stimme. Nicht lange und die Zuhörer schlugen den Takt auf dem Tisch, wobei mancher Becher umkippte, was aber niemanden störte. Während des Spiels nahm Eichensang mehrere Frauen wahr, alle wohl recht jung, aber zerlumpt und schmutzig, die sich flink im Raum bewegten und Krüge und Platten schleppten. Sie unterschieden sich kaum von der "Braut" des Anführers, denn blaue Flecken und Schrammen trugen alle.
Tosender Beifall belohnte die Darbietung, und nach einem unfreundlichen Raunzer und einem kalten Blick aus Orfgars Schweinsäuglein erklang ein derbes Tanzlied nach dem anderen. Mit einem Zwinkern trug Eichensang die meist mehrdeutigen Texte mit übertriebener Betonung vor, was das Publikum zu wahren Brüllorgien hinriss. Die eine oder andere Magd bekam einen derben Stoß oder sogar eine schallende Ohrfeige ab, entweder weil sie ein wenig ungeschickt auftrat – oder einfach so, aus purem Wohlbehagen. Mehr als einmal in dieser Nacht griff einer der Männer nach einem der zerlumpten unglücklichen Geschöpfe und warf sie ohne viel Federlesens auf die nächste Bank, um sich unter dem anfeuernden Gejohle seiner Kumpane über sie herzumachen.
Schweinsauge hatte mehr als einmal Eichensangs Blick gesucht, um nach Entsetzen oder sonst einer Regung zu forschen, doch die grauen Augen verrieten nichts. Das missfiel dem "Herrn der Halle", er wollte Angst sehen und nicht diese Ruhe. Orfgars gereizte Unruhe war fast körperlich spürbar, und die Zeit begann knapp zu werden. So begann Eichensang ein neues Lied, mit anderen Klangfolgen und variierten Akkorden. Die Männer, müde vom Trampeln und Klatschen, nahmen den langsameren Rhythmus hin, und so flochten schlanke Finger weitere Töne ein.
Der eine oder andere Zuhörer wurde ruhiger, die Stimmung veränderte sich unmerklich, aber stetig. Eichensang änderte die Akkorde, wob Ton um Ton in die gesungenen Worte aus uralter Zeit. Wie von fern war Orfgars Stimme zu hören, die fordernd schrie ... aber sie erreichte Eichensang nicht mehr.
Das besondere Lied löste sich von der Harfe, breitete sich aus und legte sich wie Seide um die Zecher, trennte sie von der Zeit. Flirrende Räder schienen sich in der rauchgeschwängerten Luft zu drehen, es gab nichts außer diesem Lied. Eichensang erhob sich von dem Hocker, der für den Harfner herbeigeholt worden war, und schritt spielend an der Tafel entlang, wo die Männer mit aufgerissenen, aber blicklosen Augen saßen, unfähig sich zu rühren. Entlang der ganzen Halle ging es, Worte und Weise wiederholend, ohne innezuhalten. Frauenstimmen flüsterten eine zweite Stimme, dann Klirren wie von Stahl.
Erschöpft hielt Eichensang inne, sank in die Knie und blickte in die Augen der jungen Frau, die aufgerichtet in der Mitte der Halle stand, umgeben von den anderen Weibern. Überall lagen die Peiniger in ihrem Blut, von ihren eigenen Waffen getötet. Ein Zauber, der nur über die fiel, die das Lied erwählt hatte ... das zehrte an der Kraft.
Eichensang streifte mit müder Bewegung die Kapuze vollends ab und nahm den Becher mit Wein entgegen, den die junge Frau ihr reichte. "Sie waren hilflos – so hilflos wie wir, als sie unser Dorf überfielen und uns hierher schleppten." Mit blitzenden Augen sah die "Braut" in Eichensangs Augen. "Wir werden nach Hause gehen können. Wir danken Euch, Harfnerin!"
© "Das Abendlied – Die Abenteuer von Eichensang": Fantasy-Geschichte von Winfried Brumma (Pressenet), 2011.
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