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Die Frau stand am Fenster, blickte starr auf den Hafen hinunter und auf das Meer. Seit der Bote vor einem Mond gekommen war und ihr berichtet hatte, was sie ebenso gehofft wie gefürchtet hatte, war sie oft hier anzutreffen. Lange war es her, viele Jahre waren in ihr Land gekommen und sie hatte geglaubt, dass die Wunde verschorft sei. Doch seit sie wusste, was kommen würde – wer kommen würde – war es ihr, als sei sie in die Zeit zurückversetzt, in der das Mädchen noch um sie gewesen war. Dieses Kind war anders gewesen, von Anfang an. Und ... die Götter sollten ihr vergeben, sie hatte es auch von Anfang an mehr geliebt als ihre anderen Kinder.
Feingliedrig war das winzige Mädchen gewesen, so zart und fast zerbrechlich. Die Geburt war leicht gewesen, viel leichter als die anderen Niederkünfte. Als die Frau an den kleinen Kopf mit den weichen goldenen Löckchen dachte, der an ihrer Brust gelegen hatte, verwandelte ein weiches und träumerisches Lächeln ihre Züge. Sie merkte nicht einmal, dass sie in die Vergangenheit geriet, den unsicheren Schritt ihres Kindes belächelte und zärtlich die Arme aufhielt, um die Kleine aufzufangen, wenn sie schwankend auf sie zustapfte. Es war, als ob ein Sonnenstrahl in den Palast gekommen war in diesen Tagen – und niemand war glücklicher als sie.
Ihr Gemahl schüttelte den Kopf über sie, doch lächelte er dabei. Er mischte sich nicht in die Angelegenheiten der Frauen, es war nicht seine Aufgabe. Sie lebten nicht schlecht miteinander, es waren gute Jahre gewesen. Leicht schüttelte die Frau den Kopf, so als wunderte sie sich noch im Nachhinein über die Dinge, die geschehen waren. Der Sitz im Rat war ihr angestammtes Recht als Tochter der Göttin, und doch hatte sie übersehen, was für alle anderen offensichtlich gewesen war: Der König hatte angefangen, sein Ohr denen zu leihen, die gegen die natürliche Ordnung der Dinge sprachen. Er teilte ihr – die sie viel Zeit mit den Kindern und den Frauen ihres Haushaltes verbrachte – nicht mehr alles mit, was gesprochen wurde. Und dann kamen Botschaften über das Meer, sie sprachen von Krieg, von Feldzügen und Bündnissen.
Die Königin gab ihre Zustimmung für das Ausrüsten der Schiffe, sie hatte ihrem Gemahl vertraut und vertrat die gleiche Ansicht wie er. Doch als sie zum Tempel der Göttin ging, um ihren Beistand zu erbitten, sprach er zu anderen Göttern, von denen sie nichts wusste. Das hart gewordene Gesicht der Frau entspannte sich, als sie an das Kind ihres Herzens dachte, wie es zu einem schlanken Mädchen herangewachsen war in diesen Tagen. Fast glaubte sie, die Stimme ihrer Tochter zu hören, so wie sie immer zu hören gewesen war in ihren Gemächern. Sie war so besonders gewesen, so einzigartig. Und schon früh war zu sehen, dass das Mädchen ein Liebling der Göttin war. Alles lag ihr am Herzen, jeder konnte sich in ihrer Freundlichkeit sonnen, ob er nun Familienmitglied oder Diener war. Und dann kam dieser Tag, dieser unvorstellbar schreckliche Tag, an dem sie ihr Kind verlor für immer.
Die Flotte lag zum Auslaufen bereit im Hafen, doch kein Wind hatte sich geregt seit Wochen und die Zeit wurde knapp. Als die Königin vom Tempelberg herunterkam, wo sie um Wind gebeten hatte, war ihre Tochter verschwunden. Sie war in Raserei verfallen und wand sich in Krämpfen, als das Kind verschwunden blieb – und als sie erfuhr, was ihr Gemahl getan hatte, musste man sie binden und mit Kräuterdämpfen betäuben. Die Flotte war ausgelaufen, und ihr blieb nichts als der Hass. Ihr Kind war ermordet – geschlachtet von dem, der ihr Ehemann gewesen war, weil er dem abergläubischen Gewäsch seiner Ratgeber glaubte. Die faselten von Menschenopfern, um die Winde zu bestechen. Man fand keine Leiche, man flüsterte, dass die Göttin ihren Liebling entrückt habe – doch die Königin glaubte diesen frommen Lügen nicht.
Diejenigen, die in den folgenden Monaten Botschaften vom Krieg brachten, wurden nicht vorgelassen – die Königin zog es vor, den Mörder zu vergessen. Und mit der Zeit vergaßen alle. Es kamen keine Schiffe mehr über das Meer, um Nachrichten zu bringen ... zwanzig Jahre lang hörte niemand mehr etwas. Doch dann erreichte die ungeheure Nachricht die Stadt, dass die Schiffe des Königs auf dem Heimweg waren. Und seitdem starrte sie unverwandt auf das Meer hinaus, auf die See, von der so viel Böses kam. Ihr Geliebter hatte ihr in die Augen gesehen und genickt, mehr war nicht nötig gewesen. Es war ein Versprechen und eine Verführung gewesen, und sie hatte keinen Augenblick widerstanden.
Am gestrigen Tag war die Meldung eingegangen, dass man die Schiffe gesichtet hatte, dass es nicht länger als wenige Tage dauern würde, bis sie einlaufen würden. Mit geschlossenen Augen hielt die Frau am Fenster die Hände ausgestreckt, wie so oft in den letzten Tagen. Und wieder fühlte sie – wie vor vielen Jahren – die Hände ihres Kindes, wie sie sich in die ihren legten. Nur einen Augenblick lang währte diese Illusion, und sie wusste, dass es eine war. Die höhersteigende Sonne machte den Raum heller, und so öffnete die Frau die Augen. Aber ohne dem Meer einen weiteren Blick zu schenken, tastete sie nach dem Dolch, den sie bei sich trug, denn sie wusste nun, dass der Mörder wiederkam.
Sie hatte immer gedacht, es wäre genug, ihm die Landung zu verwehren, ihn landlos und ehrlos von ihren Gestaden zu verjagen – als einen, der keinem Menschen unter die Augen treten könnte. Doch mit ihm war auch ihr Kind wieder in ihr Leben gekommen, ihr geliebtes Kind, das sie freigeben musste und das nicht würde gehen können, ohne dass er ebenfalls ging. Sie hob den Kopf und ging, um die letzten Vorbereitungen zu treffen, denn bald würden Segel am Horizont auftauchen. Und als sie mit hocherhobenem Kopf das Gemach verließ, um das Gesinde anzuweisen, flüsterte sie einen Namen: "Iphigenie."
Mehr über Iphigenie, der ältesten Tochter von Agamemnon (dem König von Mykene) und Klytämnestra bei Wikipedia.
© "Die Rückkehr – Die Schiffe des Königs": Erzählung aus der griechischen Mythologie von Winfried Brumma (Pressenet), 2010.
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