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Es ist nicht mehr so, wie es in meiner Jugend gewesen ist, mein Sohn, denn da wäre die Ebene, so weit du sehen kannst, von uns bedeckt gewesen. Aber das ist vorbei, und die vielen, die dich zum Staunen bringen, sind nur noch ein winziger Teil von dem Volk, das wir einmal gewesen sind. Wir sind geflohen vom offenen Land, wir haben uns in die Wälder und die Hügel geflüchtet, um in Frieden leben zu können. Aber wir gehören in die weiten Ebenen, wo man laufen kann von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang, wo wir den Wind herausgefordert haben zum Wettlauf. Wir waren die Herren, und die Gräser beugten sich, wenn wir vorbeizogen, und die Erde selbst nahm unseren Rhythmus auf.
Als sie kamen, waren wir freundlich und nahmen sie auf – wir lächelten über ihre Langsamkeit und ihre schwerfällige Weise und lehrten sie viele Dinge, von denen sie nichts wussten. Unsere Heiler sind die Besten, niemand kommt ihnen gleich, was das Kräuterwissen betrifft und die Gesänge, welche die Seele stärken. Ob ich wünschte, dass wir nicht geholfen hätten, fragst du mich? Sie sind nicht stark, ihre zarten Körper sind anfällig für alle Übel und sie zerbrechen leicht, außerdem ist ihre Lebensspanne sehr kurz – mehr als einmal haben wir sie gerettet, wenn Seuchen wüteten, die ihre Zahl vermindert hat. Aber es ist unsere Weise, seit wir auf der guten Erde leben, wir sind Heiler und müssen die Gabe vergelten an denen, die unsere Kunst brauchen. Und sie kamen zu uns und fragten nach Giften für ihre Pfeile und baten um unsere Hilfe in ihren langwierigen und ständigen Kriegen.
Sie versprachen vieles und hielten nichts, denn als sie uns genug Geheimnisse abgelauscht hatten, fingen sie an, uns zu hassen. Sie nannten uns mit Tiernamen und erzählten von unserer Grausamkeit und unserer Wildheit. Aber nicht wir waren es, die ihre Frauen und Kinder getötet haben, es war umgekehrt. Deine Mutter, mein Sohn, beklagte ihre Eltern, die gespeert wurden, obwohl sie als Unterhändler kamen. Ich verlor zwei meiner älteren Brüder, die hinterrücks getötet worden waren. Von Auge zu Auge können sie uns nicht widerstehen – sie sind nicht so stark wie wir und auch längst nicht so schnell. Aber ihre Heimtücke ließ sie Fallen bauen, in denen sie uns fingen und zu Tode quälten, ihre einstigen Lehrer und Beschützer. Als sie in die Ebenen gezogen kamen, krochen sie in Zelte aus Tierhäuten – erst wir zeigten ihnen, wie man feste Behausungen baut.
Als ich im Vollbesitz meiner Stärke war, galt es schon als sehr gefährlich, das flache Land vor ihren Stadtmauern zu bereisen. Die lange Zeit, in der wir versteckt lebten, hat ihren Tribut gefordert – wir sind kleiner geworden, aber dafür wendiger – bald werden wir ein Volk von Zwergen sein, gemessen an unserer einstigen Erscheinung. Und deshalb ist es vielleicht besser, wenn wir das tun, weshalb wir hier zusammengekommen sind, denn besser ist es, wenn wir untergehen, solange wir noch das sind, was wir waren: Hüter der Weisheit und Beschützer der Mutter, die uns alle ernährt und am Leben hält. Aber sie sind unersättlich in ihrem Hunger nach Land, nach Besitz und Vermehrung. Sie werden immer mehr, machen sich keine Gedanken über Raum und Nahrung, und da sie so viele geworden sind, brauchen sie immer weitere Äcker und immer mehr Holz – schon haben sie viele unserer Siedlungen aufgespürt und die Wälder in Brand gesetzt. Wir werden ihnen nicht lange widerstehen können.
Warum wir nicht fliehen, mein Sohn? Weil es keinen Ort gibt, an dem wir sicher wären – die Welt hat sich verändert. Wir sind nicht länger die Herren des Landes, aber wir wollen keine elendigen Flüchtlinge sein, die überall abgewiesen oder verjagt werden, weil die Lügen der Menschen zu Hass geführt haben. Wir werden fallen, aber wir werden als freies Volk die Ebenen verlassen und dahin gehen, wo am Ende alles in das große Ganze eingeht. Unsere Zeit ist um, und wir wollen nicht durch Laub und Astwerk unsere Giftpfeile abschießen, sondern in offener Schlacht fallen.
Wir gehen gemeinsam, nicht in kläglichen Gruppen als landflüchtige Besiegte, die man jagt und tötet. Ziele gut und zeig, dass in dir das Blut der besten Jäger, die jemals über die Ebenen gerast sind, fließt. Strecke deine Glieder, mein Kind ... dieses letzte Mal gehört alles Land, das wir vor uns sehen, uns allein. Wir gehen ohne Bedauern, denn die Welt ist zu klein für uns geworden. Wir tragen Blumen und Ranken in Mähne und Schweif ... am Abend wird Blut unseren Schmuck bedecken. Die letzten Kentauren ziehen heim.
© "Kentauren, die Herren der Ebenen": Erzählung von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Die Abbildung zeigt ein Detail aus einem Mosaik aus der Zeit um 130 n. Chr., Quelle: Kentaur im Kampf gegen Raubkatzen, Lizenz: gemeinfrei
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