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Der Morgendunst lag wie der Schleier einer Dame über den Bäumen und hüllte einen frostigen Herbsttag in flüchtige Schwaden. Die Gestalt, die hinter einem Baumstamm am Boden kauerte, bewegte sich mit äußerster Vorsicht. So langsam, dass es Ewigkeiten zu dauern schien, spannte eine behandschuhte Hand unhörbar einen Bogen.
Unter einer Kappe visierten zwei graue Augen ruhig und ohne zu Blinzeln das Ziel an, während die Sehne immer weiter nach hinten gezogen wurde. Die Finger lösten sich und der Atem wurde zischend ausgestoßen, aber der Pfeil hatte sein Ziel gefunden. Dort vorne lag nun eine tote Hirschkuh.
"Guter Schuss, Schwester." Die Gestalt nickte dankend und stapfte auf die Lichtung zu, auf der das Tier lag. Hinter ihr hustete der Mann, der sie angesprochen hatte – das Geräusch klang hohl und kratzig. Das ging schon länger so – langsam machte sich Marian Sorgen um den Mann. "Sieh zu, dass du nachher zu Beth gehst und dir einen Tee geben lässt. Du verscheuchst ja das Wild mit deinem Gebelle." Sie sagte das grob und eher wie nebenbei, denn sie wusste, dass er nichts von Kräutertränken und dergleichen hielt. "Als ob Ale heilende Kräfte hätte", dachte sie.
Die Hirschkuh lag, mit dem Pfeil direkt im Herzen, im Gras – sie war sofort tot gewesen. Als Marian das Tier untersuchte, sah sie, dass es eine alte Kuh war. Das Tier hatte überdies gelahmt, es hätte den kommenden Winter kaum überlebt. Marian war erleichtert darüber, denn sie hasste es, einem jungen und gesunden Tier das Leben zu nehmen, auch wenn es noch so notwendig war. Sie hatte das niemandem gesagt, solche Dinge verschwieg man, wenn es um das Überleben der Menschen ging. Zwei weitere Männer waren jetzt gekommen, drehten den Kadaver herum und begannen damit, ihn aufzubrechen und auszuweiden.
Marian starrte bekümmert auf ihre Handschuhe, oder besser gesagt auf das, was von ihnen übrig war. Sie hatte sie bis jetzt nicht ersetzen können, weil es an Leder und Häuten fehlte im Lager. "Aber es fehlt ja an allem", dachte sie und zuckte die Achseln. Ihr Begleiter beobachtete sie und senkte dann den Kopf. Er erriet ihre Gedanken. Dann hatten die anderen Männer die Hirschkuh an einen Ast gebunden und ihn geschultert, um die Beute in das Lager zu bringen. Früher hätten sie die Eingeweide vergraben, um ihre Anwesenheit hier zu verbergen – aber jetzt nahmen sie das Zeug in einem Holzeimer mit. Sie konnten auf nichts verzichten, das irgendwie als Nahrung dienen konnte – überdies brauchten sie die Sehnen. Der Marsch zurück verlief meist schweigend, bis auf einige Worte, die Marian und ihr Begleiter wechselten – belanglose Dinge waren es. "Aber", so dachte die Frau, "es gibt nichts wichtiges, das ausgesprochen werden muss. Nicht mehr, jedenfalls."
Das Lager der Gesetzlosen machte einen recht erbärmlichen Eindruck, es gab Hütten aus Rinde und einige geflickte Zelte. Kleine Feuer brannten hier und da, über denen Wasser oder eine Suppe kochte, der Unterschied war nicht gerade groß. Die tote Hirschkuh war ein Geschenk Gottes, und so wurde sie auch begrüßt. "Ich weiß nicht einmal, wann wir das letzte Mal solch ein Jagdglück hatten", sagte Marian, während sie die Männer und Frauen betrachtete, die gelaufen kamen. "Ich erinnere mich auch nicht an das letzte Fässchen Ale, das wir erbeutet haben", sagte der Mann da lachend. Sie gab ihm einen Stoß und sagte: "Du solltest wirklich zu Beth gehen, Will. Aber da kommt sie."
Will Scarlet betrachtete missvergnügt die hagere Alte in den zerlumpten Kleidern, die auf ihn und Marian zukam. "Ein schönes Stück Fleisch, Lady. Die Mutter Gottes ist mit euch, das ist es, was ich immer sage." Dann schnäuzte sie geräuschvoll auf den Boden und fasste Will ins Auge: "Ich hab dich husten gehört wie einen besoffenen Höhlenbären. Komm mit, ich habe da etwas, das dir helfen wird." Ergeben verdrehte Will die Augen und schickte sich an, der Alten zu folgen. Über die Schulter warf er Marian einen Blick zu, der sorgenvoll und trotzig zugleich war. Dann ging er mit Beth zu ihrer Hütte. Die Frau drehte sich um und sah eine Weile zu, wie das Tier zerlegt wurde. Das überwachte John, der Schmied. Er sah in ihre Richtung und nickte ihr zu, lächelnd und zwinkernd.
Marian lächelte zurück, ging dann aber weiter zu dem einzigen festen Blockhaus des Lagers. Langsam ging sie, wie um etwas hinauszuzögern, das unausweichlich war – und vor der Türe aus rohen Bohlen legte sie erst Köcher und Bogen ab. Dann drückte sie gegen die Türe und stieg über die hohe Schwelle. Es roch unangenehm im Innern, das aus einem einzigen Raum bestand. Die Kräuter und Wacholderbeeren, die Beth und Tuck hier verbrannten, konnten den Fäulnisgeruch nicht wirklich überdecken, er lag über allem. Der einstmals so feiste Mönch hatte neben der Pritsche gesessen und stand jetzt auf, den Finger vor die Lippen gelegt. Marian verstand und kam lautlos näher, warf einen Blick auf den Mann, der auf dem Strohsack lag. Er war totenbleich, hatte aber fiebrig rote Flecken auf den Wangen. Sein Haar klebte auf der Stirn, die Hände lagen neben dem Körper. Das eingefallene Gesicht war ruhig, nur die Lippen zuckten.
Marian starrte auf das, was von Robin of Locksley übrig geblieben war und spürte das vertraute Brennen in der Kehle und in den Augen. Aber da schob Tuck sie schon sanft zur Türe hinaus. Draußen sagte er: "Er hatte eine schlimme Nacht, Marian. Er ist noch nicht lange eingeschlafen, erschöpft wie er war. Er braucht die Ruhe so sehr." Die Frau drückte die Hand des Mönches und setzte sich dann auf die Bank vor der Hütte. Ihre Gedanken schweiften ab, in die Vergangenheit. Sie hatte sich von ihrem Leben losgesagt und war ihm in die Wälder gefolgt. Viele andere folgten auch, und bald waren sie viele gewesen. Aber nach nur zwei Monaten traf der Pfeil eines Häschers den Anführer der Merry Men, und alles war anders gekommen. Der Pfeil hatte im Rücken gesessen, und Robin hatte keine Schmerzen gehabt – er konnte allerdings seine Beine nicht bewegen. Die Wunde war zwar tief, aber der Blutverlust gering.
Doch auch als der Pfeil entfernt worden war, blieb die Taubheit in den Beinen. Es war, als sei ab der Mitte alles Leben aus dem Körper gewichen. Am Anfang hatten sie noch gehofft, aber bald wusste Marian, dass Robin Hood nie mehr auf seinen Beinen stehen würde, geschweige denn in den Wald laufen konnte. Über Robins Seele legte sich ein Schleier, und die Wunde entzündete sich mehrere Male. Und jedes Mal nahm das Fieber mehr von dem Mann mit, den sie liebte. Jetzt, ein Jahr später, war der Rücken des Kranken eine einzige offene Wunde. In klaren Momenten hatte er ihnen klargemacht, dass er nicht sterben dürfe. "Die Menschen brauchen mich und meinen Bogen, verstehst du, Marian. Lass sie weiter daran glauben. Es ist so wichtig für sie."
Alle im Lager verstanden, was er sagen wollte, und alle stimmten zu, dass der beste Schütze nach ihm nun das tun würde, was getan werden musste. Marian schoss ebenso gut wie ihr Mann – Tuck hatte sie getraut – nur war es nie wichtig gewesen. Nach und nach übernahm sie die Führung, wenn sie sich auch auf John, Will und Tuck stützte. Sie kannte das Leben auf der anderen Seite, und sie wusste, wie sie dachten, die selbsternannten Herren des Landes. Die Legende lebte weiter – dafür würde sie sorgen – sie würde auch weiterleben, wenn Robin den Kampf gegen das Fieber verlor.
In zwei Wochen würde Jahrmarkt sein in der Stadt und überdies Turniere stattfinden. Die Vorräte mussten aufgefüllt und das Lager für den Winter vorbereitet werden. Und wie in Gedanken strich Marians Hand über ihren Bogen, der an der Bank lehnte. "Ja", dachte sie, "Robin Hood würde der Stadt und vor allem dem Bischof einen Höflichkeitsbesuch abstatten." Und ihre Augen glitzerten, während ihr Mund sich zu einem Lächeln formte.
© Erzählung "Marian und die Legende" von Winfried Brumma (Pressenet), 2011. Illustration: Thomas Alwin Müller, littleART.
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