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Ich hatte geglaubt, sie wüsste es nicht. Sie ist doch viel zu gutgläubig dafür, die "Allbeschenkte". Sie, die Hüterin dieses gewaltig großen Kruges, wird sich nichts zuschulden kommen lassen, das steht fest. In ihr hübsches Gesicht ist grenzenloses Vertrauen geschrieben, und wahrscheinlich weiß sie nicht einmal, dass sie nur zu mir geschickt wurde, um mich zu strafen für die grenzenlose Dummheit meines Bruders. Ich habe nichts zu tun damit, und ich beklage die Dummheit des Prometheus aus tiefstem Herzen. Wieso er glaubte, das Feuer auf die Erde bringen zu müssen, ist mir unklar – wem sollte das nützen.
Und dann schickt man vom Himmel dieses wundervolle Weib herunter, diese Schönheit mit den sanften Kuhaugen und dem leeren Köpfchen, als Mitgift diesen verfluchten Krug mit sich führend. Wer bin ich, dass ich nein sage zu den Geschenken der Olympier – wenn auch mein Bruder mich warnte. Aber Prometheus ist nicht ohne Fehler, wie das Beispiel seiner Ruhmestat zeigte. Schon allein, um zu zeigen, dass ich sehr wohl in der Lage bin, meine eigenen Schlüsse zu ziehen, habe ich sie genommen. Zugegebenermaßen hatte ich die ersten Monde andere Dinge im Kopf als dieses Gefäß, denn wer eine solche Frau praktisch ins Bett gelegt bekommt, kümmert sich nicht um Krüge. Mag sie auch etwas einfältig wirken, meine schöne Gottesgabe – als Gespielin ist sie eine Offenbarung. Doch dieser vermaledeite Krug stahl sich in meine Gedanken, immer öfter betrachtete ich ihn und tastete an seinem Siegel herum.
Mein Weib schüttelte nur sanft und großäugig den hinreißenden Kopf, wenn ich nach dem Inhalt fragte. Sie weiß wohl wirklich nicht, was darinnen ist, die Schöne. Und dann wurde ich des Rätselns überdrüssig und stahl mich des Nachts hinaus zu dem Raum, wo sie ihre Mitgift aufbewahrt. Mit meinem Dolch ritzte ich das Wachs unter dem Deckelrand so ein, dass man es nicht bemerkt und öffnete den Verschluss ein wenig. Zu meinem Glück klappte ich den Deckel nicht vollends zurück, denn aus dem Inneren fuhr ein fürchterlicher Hauch heraus. Schnell schloss ich den Krug wieder, aber wie eine graue Wolke stand dieser ungute Hauch im Raum, dann verflüchtigte er sich wie ein Windstoß. Ich wusste nicht, was da herausgekommen war – aber ich drückte alles wieder so zurecht, dass niemandem etwas auffallen würde und schlich hinaus.
Und als ich schon nicht mehr daran dachte, erfuhr ich von meinem Bruder, dass etwas Schlimmes über die Menschen gekommen war. Ich habe noch kein Wort dafür, aber es ist, als würden sie schwach werden wie die Sonne am Abend. Ich wollte wissen, ob es das war, was aus diesem Krug gekommen war, und so tat ich in einer Nacht das, was ich schon einmal getan hatte. Und wieder entfuhr etwas dem Krug. Dann hörte ich von sonderbaren Dingen bei den Menschen, dass sie angefangen hatten, sich umzudrehen und Fackeln trugen in der Nacht, damit sie in alle Winkel sehen konnten. "Furcht" nennen sie dieses neue Gefühl.
Auf jeden Fall begann die Sache mir Spaß zu machen, immer wieder schlich ich zum Krug und entließ etwas Neues in die Nachtluft. Die sonderbarsten Dinge geschahen, alles veränderte sich und nicht zum Guten für die Menschen. Mein verrückter Bruder liebt sie, er machte sich die Götter zum Feind für sie und ich denke, es ist nur gerecht, dass sie dafür gestraft werden. Und jetzt ist in diesem Krug nichts mehr drinnen – als ich das letzte Mal den Deckel öffnete, kam nichts hervor.
Aber es ist auch genug – es fing an, mich zu langweilen. Die Menschen sind innerhalb weniger Monde auf weniger als ein Viertel ihrer Zahl geschrumpft. Was übrig blieb, sind solche, die "krank" sind (eines der neuen Worte) oder solche, die ihre Sinne nicht mehr zusammen haben. Außerdem fallen sie einander an wie die Tiere der Wildnis. So beschloss ich, den Krug wieder völlig zu verschließen, damit die Sache auf sich beruhen soll. Doch da höre ich nun Schritte – und mein sanftes Weib steht mit aufgelöstem Haar vor mir und klagt mich mit weit aufgerissenen Kuhaugen an. Sie versucht den Deckel zu heben, wieso auch immer, aber ich lache sie aus, denn der Krug ist leer. Ich sage ihr das, aber sie schüttelt nur den Kopf. Was liegt ihr nur an diesem Gezücht, für das Prometheus so viel wagte?
Als sie endlich doch den Deckel geöffnet hat, starrt sie in die Öffnung des Kruges. Nichts rührt sich und sie beginnt laut zu weinen. Die Worte, die sie mir an den Kopf wirft, hätte ich ihr wirklich nicht zugetraut – aber was tut sie jetzt? Sie wirft den Krug vom Sockel herunter – bei den Göttern – er zerbricht. Und ... was ist das? Was ist diese kleine weiße Wolke für ein neues Übel? Nein, es ist etwas anderes. Es ist etwas, das mir den Spaß verderben wird, das kann ich fühlen. Und da steht sie und wedelt mit den Armen und lacht – sie, die eben noch weinte, und sieht zu, wie sich das Wölkchen auf die Reise hinaus zu den Menschen macht. Frauen können einem wirklich jede kleine Freude verderben.
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© Erzählung "Der Krug der Pandora": Winfried Brumma (Pressenet), 2011. Das Bild "Die Büchse der Pandora" zeigt einen Kupferstich von Jacques Joseph Coiny, Lizenz: gemeinfrei.
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