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Die Nähe zu den Sümpfen machte die Luft feucht und schwer – ein leichter Modergeruch hing über dem Wald, durch den Eichensang schritt. Die Harfnerin hatte nach dem schweren Unwetter der letzten Nacht den Weg verlassen müssen, denn die Straße war wegen des Schlammes nicht mehr zu passieren gewesen. Sie hoffte, einen Bogen zu schlagen und auf den breiten Handelsweg zurückkehren zu können, wenn sie sich einige Meilen lang parallel dazu hielt. Solange sie dem Sumpf nicht zu nahe kam, mochte es angehen, und der Wald war eigentlich recht angenehm zum Wandern.
Sie hatte eine Quelle gefunden, an der sie ihren Wasserschlauch gefüllt und eine kleine Rast gehalten hatte, und ihre aufmerksamen Augen hatten neben den Tierspuren auch Anzeichen für die Anwesenheit von Menschen gefunden. Daher beobachtete Eichensang ihre Umgebung sehr genau, während sie ging. Die Anzeichen für die Nähe einer Siedlung wurden immer häufiger und die Harfnerin wusste, dass sie sich einem Lager oder wahrscheinlich eher einem Dorf näherte. Stämme waren geschlagen worden und lagen geschält aufeinander am Rand des jetzt recht breiten Pfades, auf dem ohne weiteres drei Pferde nebeneinander Platz gehabt hätten.
Plötzlich blieb die Gestalt im bis auf eine Bronzenadel schmucklosen Umhang stehen und sog prüfend die Luft ein ... Rauch. "Zeit wird es", murmelte Eichensang und hoffte auf mehrere Dinge bei den Menschen: eine warme Mahlzeit, einen Platz zum Ruhen und vor allem eine Wegbeschreibung. Sie würde dafür bezahlen, wenn es nötig sein würde, aber die Harfnerin brauchte meist keine der Münzen, die sie in einem Beutel unter dem Gewand trug. Kaum jemals verlangte man mehr als Musik und Geschichten als Gegengabe für Gastfreundschaft. Daran dachte Eichensang, als sie um die letzte Biegung vor dem Dorf schritt und stehen blieb, um den Ort zu betrachten.
Vor ihr lag ein Weiler mit einigen Hütten, es mochten etwa sieben oder acht sein. Sie waren in einem auseinandergezogenen Kreis auf einer Lichtung gebaut. In der Mitte stand ein uralter Baum, um dessen Wurzeln sich einige recht magere Schweine suhlten. Über allem hing ein sonderbarer Geruch, er kam von den Trockengestellen mit Fischen, die überall aufgestellt waren. Vermutlich waren die Wasserläufe der Sümpfe ein ergiebiger Fanggrund. Das hier war kein Dorf der Bauern, sondern der Fischer und Jäger.
Eichensang war ruhig stehen geblieben, um den unvermeidlichen Begrüßungschor der Dorfhunde zu erwarten. Tatsächlich ließ dieser nicht lange auf sich warten, und einige recht zauselig aussehende Jagdhunde versammelten sich um den fremden Besucher. Gleich hinterdrein kamen erfahrungsgemäß die Kinder und dann die anderen Bewohner. Es war hier nicht anders als sonst, denn schon waren eine Handvoll Rangen aufgetaucht, großäugig und scheu. Eichensang schlug ihren Umhang ein wenig zurück, um ihre kleine Harfe sehen zu lassen, die sie am Gürtel trug – das reichte meist als Vorstellung.
Eine Frauenstimme scheuchte die Hunde zur Seite und sprach ein freundliches Begrüßungswort. "Ihr habt Euch wohl verlaufen, Wanderer? Hier kommen nicht oft solche wie Ihr vorbei – aber seid auf jeden Fall willkommen bei uns." Eine ältere Frau mit vielen Falten um die Augen und sonnengebräunter Haut hatte zu Eichensang gesprochen. Die Frau trug ihr braunes Haar, das von Grau durchsetzt war, in einem einfachen Knoten, ihre knielange Tunika war dunkel und abgetragen. Darüber trug sie eine ärmellose Weste aus speckigem Leder und einen Dolch am Gürtel. Die anderen Herangekommenen waren samt und sonders auch Frauen, sie waren ebenso gekleidet wie die Ältere.
+ + +
Man winkte Eichensang zu einer Hütte, vor der man einen Kessel auf dem offenen Feuer hatte. Ein junges Mädchen rührte in dem Gefäß und lächelte die Harfnerin schüchtern an. "Ihr werdet Hunger haben ... Herrin." Das letzte Wort kam nach einer kleinen Pause. Die Frau hatte die Harfnerin eindringlich gemustert – ihr graues Haar, das zurückgebunden war, die ernsthaften grauen Augen mit den Fältchen darum und die hagere Gestalt. Dem oberflächlichen Betrachter wurde das Geschlecht der Harfnerin nicht unbedingt gewahr, denn Eichensang legte keinen Wert darauf. Manche hielten sie für einen Mann, und manchmal korrigierte sie den Irrtum nicht – es kam auf die Umstände an.
"Esst mit uns, trinkt mit uns und erzählt, woher Ihr kommt. Wir bereiten Euch ein Nachtlager – und wenn Ihr nicht zu müde seid, gebt uns ein Lied dafür." Lächelnd neigte Eichensang den Kopf zu diesen Worten und setzte sich auf die grobe Bank. Der Fischeintopf in dem großen Kessel schmeckte hervorragend, das mit Kräutern versetzte Wasser ebenso, und so hatte die Harfnerin keinen Grund zur Klage. Sie erfuhr, dass die Männer unterwegs in den Sümpfen waren mit ihren flachen Kähnen, so wie sie es sich gedacht hatte. In deren Abwesenheit kümmerten sich die Frauen des Dorfes um das wenige Vieh und die Belange der Familie.
+ + +
Als der Abend langsam den Himmel violett färbte, saßen alle zusammen bei dem großen Baum und lauschten Eichensang, die weitaus mehr als ein Lied für die Frauen spielte. Die Kinder waren hingerissen, sie drängten sich um die Harfnerin und hörten mit offenen Mündern, als wollten sie die Töne aufsaugen, sobald sie von den Saiten sprangen. Die Frauen wollten sie verscheuchen, aber Eichensang winkte ab und lächelte den Kleinen zu. "Sie haben noch nie so etwas gehört, Herrin – sie kennen nur die Flöten und Trommeln der Männer, wenn wir die wenigen Feste feiern übers Jahr." Und Eichensang spielte und sang für die Frauen und die Kinder, als sie ein Zupfen an ihrem Gewand spürte.
Lächelnd wandte sie sich um und sah eine ziemlich schmutzige und unförmige kleine Hand, die sich blitzschnell wieder zurückzog. "Wer hat dir gesagt, dass du herkommen sollst?", keifte eine laute Frauenstimme und packte die kleine von einem unförmigen Überwurf verhüllte Gestalt, um sie schnell in eine entfernte Hütte zu zerren. Eichensang hatte einen flüchtigen Eindruck von riesengroßen Augen und so etwas wie Fell, aber da war die kleine Gestalt schon weggebracht worden. Man hörte ein Greinen und dann ein gezischtes Wort, dann war Stille. Eichensang spielte ein letztes Lied und deutete dann an, dass sie müde war, was die Anführerin veranlasste, die Versammlung aufzulösen. Eine Frau nach der anderen dankte der Harfnerin und zog sich dann mit ihren Kindern zurück.
Eichensang begab sich zu der ihr zugewiesenen kleinen Hütte, die sonst als Lager für Reusen und Netze diente und die man mit einem Schlaflager aus Fellen versehen hatte. Aber sie blieb vor dem niedrigen Eingang stehen, denn sie wartete auf jemanden. "Ihr habt es gesehen, Herrin, nicht wahr?" Die Älteste war leise neben sie getreten und hatte diese Frage gestellt. "Vielleicht könnt Ihr uns helfen, folgt mir." Und Eichensang folgte der Frau zu der Hütte, in die man den ungebetenen kleinen Zuhörer gebracht hatte und den man hatte verstecken wollen. Im Inneren brannte ein Binsenlicht, gerade hell genug, um das Geschöpf sehen zu können, das da auf den Schlaffellen lag. Es war wach und schaute erstaunt die beiden Frauen an, dann hob es entzückt die Hände und wollte nach der Harfe Eichensangs greifen.
Große, erdfarbene Augen unter einem gewaltigen Wust schwarzer Haare, die tief in die Stirn wuchsen und sich über den Hals und die Arme bis zu den Händen fortsetzten, waren im trüben Licht zu erkennen. Die platte Nase und die vorstehenden Zähne machten das faltige kleine Gesicht nicht eben schöner, wenngleich die Runzeln recht rosig aussahen – so wie sich das gehörte für einen jungen Troll. Eichensang schaute die Frau fragend an. "Vor etwa zwei Sommern töteten unsere Jäger die Mutter ... es war ein Versehen, sie hatte sich im Unterholz verbergen wollen und wurde für die verletzte Sau gehalten, die gespeert worden war. Es gibt hier im Flachland keine Trolle und wir wissen nicht, wieso sie von den Bergen heruntergekommen war. Die Männer brachten das Kind ins Dorf, sie wussten nicht, was sie damit sonst tun sollten. Aber er wächst, und er gehört nicht hierher, man würde ihn früher oder später töten, wenn man erführe, dass er hier lebt."
Während ihrer Rede hatte die Frau das Kleine gestreichelt und ihm das wilde Haar mit den Fingern geglättet. Dann sah sie mit bittenden Augen Eichensang an. "Es ist viel verlangt, aber wir kennen nur unser Dorf und das Land ringsum. Wir können hier nicht weg." Sie nahm das Trollkind weinend in die Arme und vergrub das Gesicht in dem wilden Schopf. Erst als sie Eichensangs Hand auf der Schulter fühlte, blickte sie wieder auf, hoffnungsvoll und ergeben.
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Der Weg in die Berge war nicht das Schwierigste gewesen, auch nicht der kleine Begleiter – schwierig war es, einen Troll-Clan zu finden, der bereit war, das Junge aufzunehmen. Man kann monatelang im Gebirge umherstreifen, ohne auch nur eine Haarspitze von ihnen zu sehen, denn sie trauen den Menschen nicht und meiden sie. Können sie dies nicht mehr, greifen sie an – das geht meist zu Ungunsten der Menschen aus.
Eichensang zog mit ihrem kurzzeitigen Ziehsohn umher – immer wieder rastend und in einer besonderen Weise spielend. Eine, in die sie Rufe flocht. Rufe, die von Felsen und Bergen, von Erde und Stärke geschwängert war. Und dann kam die Stunde, in der sie spürte, dass sie beobachtet wurde und in der sie den Kleinen ohne Umhang auf dem Felsen spielen ließ. Sie veränderte die Töne, so dass sie einer Bitte glichen – und ihr Lied beschrieb die Sehnsucht des Trolles nach Geborgenheit.
Sie fühlte es, als es an der Zeit war, zu gehen – und als sie nach einiger Zeit zurücksah, konnte sie eine grobschlächtige Gestalt sehen, die ein kleines Wesen in zärtlicher Weise hochhob, während andere derselben Art dabeistanden. Hochbefriedigt zog Eichensang ihren Umhang zurecht und machte sich auf den langen Weg in die Täler hinunter – aber so ein kleiner Umweg hatte schließlich noch keinem geschadet.
© Textbeitrag "Ein kleiner Umweg – Die Abenteuer von Eichensang": Winfried Brumma (Pressenet), 2010.
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