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Es musste kurz vor Sonnenaufgang sein, als man Arite weckte. Sie bekam ein Bad, das von singenden Mägden bereitet wurde, ein Frühstück, das sie nicht anrührte und dann das Gewand. Bodenlang, aus einfachem ungebleichten Leinen. Darüber ein Umhang aus Wolle, leicht aber wärmend. Das Haar, so wurde ihr gesagt, sollte offen bleiben, und sie sollte ihren Schmuck ablegen. Sie tat, was man verlangte, ruhig und ohne ein Wort zu sprechen. Sie war aus einem traumlosen Schlaf erwacht, aber dieses Summen war da gewesen. Es tröstete sie, es gab ihr die Kraft, um die Haltung zu bewahren, und sie war dankbar. Dann verband man ihre Augen und brachte sie zur Sänfte. Erst im Inneren durfte sie die Binde abnehmen und das war ihr recht.
Arite hatte Abschied genommen von ihrer Welt und wollte sie nicht noch einmal sehen. Und in die Kissen gelehnt ruhte sie in der von dichten Vorhängen verhangenen schaukelnden Transportkiste, die Augen geschlossen und auf das beruhigende Geräusch lauschend. Das wurde stärker, je näher die Berge kamen, und Arite wusste, dass dort oben etwas auf sie warten würde, um sie zu retten. Die Sonne stand im Zenit, als die Träger die Sänfte abstellten. Arite wurde gebeten, auszusteigen und zu Fuß zu gehen, weil der Pfad zu steil wurde. Flankiert von zwei Priestern stieg sie den gewundenen und steinigen Gebirgsweg weiter hinauf. Die beiden behäbigen alten Männer hatten sichtlich Mühe, die Steigung zu bewältigen, und Arite dachte daran, dass sie nicht fähig sein würden, sie am Entkommen zu hindern. Doch an Flucht dachte Arite nicht, denn sie hatte keine Angst mehr. Sie vertraute diesem warmen Gefühl, das immer stärker in ihr wurde und das sie mit Macht den Berg hinaufzog.
Plötzlich blieben die Priester stehen, schweißbedeckt und kurzatmig. "Ihr müsst nun allein weitergehen, so will es das Gesetz", sagten sie. 'Das Gesetz ... oder eure erbärmliche Angst?', dachte das Mädchen. Aber sie sagte nichts, sie hatte nicht vor, noch einmal das Wort an einen Menschen zu richten. Man wies auf die Felswand, zu der sich der immer schmälere Pfad hinaufschlängelte. Oben, ganz weit oben war eine Öffnung im Berg zu sehen. Es musste ein riesiger Höhleneingang sein, wenn er schon von hier aus so gut zu sehen war.
Ohne den beiden Priestern auch nur einen Blick zu gönnen, stieg Arite hinauf, die Augen auf den dunklen Fleck hoch oben gerichtet. Das Summen in ihrem Kopf war nicht stärker geworden, aber Arite hatte das Gefühl, als könne sie Worte hören ... oder eher fühlen. Völlig frei von Angst und Verzweiflung bewältigte sie den steilen Weg, setzte einen Fuß vor den anderen und machte nur wenige Pausen, um Atem zu holen. Es zog sie mit Macht dort hinauf – sie wollte dahin, wo dieses Gefühl herkam, dieser Trost.
Dann war die Welt in Schatten getaucht, denn über ihr ragte der Eingang zur Höhle auf – so riesig, wie sie geglaubt hatte. Und von da kam das, was in ihr war und sie mit Macht hierher gezogen hatte. Vorsichtig betrat sie das Dunkel, vorsichtig ging sie weiter, bis ihre Augen sich angepasst hatten und sie ein wenig von der Höhle sehen konnte. Hoch war sie, wohl höher als der Tempel in der Stadt da unten, und warm war es. Und es lag ein Geruch in der Luft wie vor einem Gewitter, wenn sich die Haare aufstellten und Funken sprühten, wenn man Metall berührte. Und Arite ging zielsicher tiefer in die Höhle hinein und bemerkte dann erst, dass sie einer Stimme folgte, die sie führte.
Sie verstand das Summen jetzt, und es überraschte sie nicht. Sie gelangte in einen riesigen Raum, so groß, dass man mit Sicherheit alle Einwohner der Stadt hätte unterbringen können, und er war nicht völlig dunkel, denn das Licht der untergehenden Sonne drang durch Öffnungen im Fels. In der Mitte ein flacher Fels, auf dem sie lag, die Quelle der Stimme in Arites Gedanken. Völlig ohne Zögern ging sie darauf zu, bis sie in die Augen der wunderschönen Kreatur sah.
Der Drache der Goldstadt war ein herrliches Geschöpf, helle Schuppen bedeckten den starken, aber schlanken Körper, der viele Längen maß. Der Kopf allein hatte die Größe eines Pferdes, und die Augen waren wie Brunnen. "Du bist gekommen, Kind. Du bist da, um den Pakt zu erfüllen ... ich grüße dich!" Arite hörte, fühlte diese Worte in sich. Ein flüchtiger Gedanke, Bilder ihrer Eltern und anderer Menschen, dann verlor sie sich in diesen Augen. Der Drache zeigte ihr Dinge, die gewesen waren: eine junge Frau, die das Los gezogen hatte, den Berg hinaufkam und vor dem Drachen stand. Viele, viele Jahrhunderte vergingen und immer wieder kam ein Mädchen den Berg herauf. Und starb nicht, sondern lebte weiter hundert Jahre lang. "Ich bin jetzt müde, Kind. Es ist Zeit." Und Arite verstand, sie begriff, was ihr Schicksal war und nahm es an. Sie trat nahe, ganz nahe an die Riesenechse heran, legte ihre Hände auf die Stelle zwischen den Augen. Dann tauchte sie ein in die Gedanken des Drachens, sah und fühlte, schmeckte und roch. Spürte den liebevollen Abschied, war traurig und doch glücklich.
Dann war die Seele des Drachens fort, wie ein warmer Windhauch unter der Sonne. Arite richtete sich auf und sah in der Höhle umher. Die war sehr viel kleiner als vorher, und sonderbarerweise konnte sie fast den ganzen Raum erkennen, ohne den Kopf zu bewegen. Sie bog den Hals, um die goldglänzenden Schuppen zu bewundern, streckte dann ihre Glieder. Zwischen ihren gewaltigen Tatzen lag ihr Körper, leblos und winzig. Arite entfaltete ihre Schwingen, so weit es der Platz zuließ, nur um sie zu spüren. Sie würde diese kleine Hülle hinaustragen und in die Berge bringen – irgendwohin, wo niemand sie finden würde. Dann würde es Zeit werden, um ihre Aufgabe zu erfüllen ... das Bewachen der goldenen Stadt. Hundert Jahre waren eine lange Zeit, um den herrlichen Wind unter den Schwingen zu fühlen.
© Fantasy Drachengeschichte "Der Drache der Goldstadt" und Zeichnung: Winfried Brumma (Pressenet), 2011.
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