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Das hier ist ein Frauenhaushalt, daran ist nicht zu rütteln. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich mag meine Mutter und meine Schwestern wirklich sehr ... aber sie gehen mir fünf Tage von sieben auf die Nerven. Ich bin der Älteste, 23 seit zwei Monaten – aber das nützt mir nicht im Geringsten etwas. Schon als kleiner Junge hatte ich geglaubt, dass ich als Baby vertauscht worden bin, und in der völlig normalen Familie, die eigentlich meine wäre, ein durchgeknallter Dandy großgezogen wird und am Verzweifeln ist. Leider waren das nur Träume – aber Sie verstehen doch, was ich meine, oder?
Mein alter Herr ist meist abwesend, er ist so etwas wie ein Workaholic, was mich nicht wundert. Er schont seine Nerven wahrscheinlich im Betrieb weitaus mehr als zu Hause. Mom und die Mädels haben da, wo andere ein Gehirn pflegen, einen Modekatalog plus integrierter Drogerie. Sie sollten mal das Badezimmer sehen, dagegen ist ein Kosmetiksalon ein Bauchladen. Allein vom Zuhören bin ich Fachmann in Sachen Beauty und Wellness – hier wird ja von nichts anderem geredet. Ich gebe allerdings gerne zu, dass die weiblichen Mitglieder der Familie gar nicht so weit von einer Barbie-Kollektion entfernt sind – und ich gerate leider nach Dad: nicht allzu groß, sehr hohe Stirn (wo das hinführen wird, kann ich bei meinem Vater sehen) und diätresistent.
Wenn sich die Mädels langweilen, fallen sie über mich her – und das ist fürchterlich. Ich lege nun mal keinen Wert auf Bravo-Tauglichkeit und so was. Mir liegt diese Art von Körperkult einfach nicht. Hat lange gedauert, bis ich mich durchsetzen konnte, was meine Klamotten betrifft, denn Jeans und Shirts sind nicht gerade beliebt bei uns. Designerfetzen wären bei mir eine Verschwendung und Sport ist nun auch nicht meine starke Seite – ich hab's mehr mit Büchern. Allein dieses Wort sorgt für einen Brauenheb-Marathon bei meinen Schwesterherzen. Wenn ich nicht hinter mir abschließe, hab ich keine Chance zum Lernen. Aber ich will Anwalt werden, und wenn möglich, ein Guter.
Na, jedenfalls war heute den ganzen Tag dicke Luft, denn sie haben das ganze Repertoire durchgespielt: wieso ich mich so hängen lasse, wieso ich keine Freundin habe, wäre ja auch kein Wunder bei meiner Optik und blah, blah, blah. Heute Abend ist Silvesterball in der Turnhalle, Mom gehört zum Vorstand der Tanzgarde – oder wie sich das nennt – und alle rennen da hin. In dem Städtchen hier ist der Ball so was wie die Hauptattraktion des Jahres, wissen Sie. Und ich hab absolut keine Lust drauf. Das heißt, eigentlich würde ich ausnahmsweise gerne mal abschalten – vielleicht könnte man ja jemanden treffen, der interessant ist. Ich hab das Alleinsein ziemlich über in der letzten Zeit. Aber andererseits kann ich mich so kaum sehen lassen, da haben meine Schwestern schon Recht. Wäre aber irgendwie peinlich gewesen, noch eben andere Plünnen zu besorgen – und ich wüsste auch gar nicht, welche.
Jedenfalls sind alle weg, und ich kann mich vor den Fernseher knallen – was anderes fällt mir, ehrlich gesagt, nicht ein. Ich hab nicht mal Lust auf Lernen. Und da klingelt es. Hat jemand den Schlüssel vergessen? Aber nein, das ist Sandra – meine Freundin. Sie ist ein tolles Mädchen, wir arbeiten oft zusammen und ich mag sie gern. Heute Abend sieht sie etwas verheult aus. Wie sich rausstellt, hat ihr Date sie versetzt für heute und ich soll einspringen, weil sie auf den Ball will. Och nee, Sandra. Und noch während ich nach Ausreden suche, zerrt sie mich mit zu ihr nach Hause, wo sie den Kleiderschrank ihres Bruders stürmt. Dann macht sie mit mir, was meine Mutter und meine Schwestern auch gerne täten, nur dass es mir bei Sandra nicht viel ausmacht – sie macht mich zurecht. Haare waschen und Gesicht reinigen, Brille richtig putzen und kämmen. Dazu ein schönes Hemd und eine wirklich sehr hübsche Lederjacke von ihrem Bruder, der fast die gleiche Größe hat.
Als ich in den Spiegel sehe, bin ich doch überrascht. Der Typ da sieht gar nicht mal schlecht aus. Die Haare liegen locker und irgendwie flauschig um den Kopf, Hemd und Jacke machen einen ziemlich lässigen Eindruck. Lässig, aber nicht schlampig, wie Sandra sagt. Dann ziehen wir los, Sandra und ich. Es dauert eine Weile, bis wir drin sind und das Stempelchen auf dem Handgelenk haben, noch immer stehen die Leute Schlange, obwohl es doch fast zehn Uhr ist. Und dann, im Gewühl, meint meine Freundin Sandra, dass es absolut keine Rolle spielt, ob ich tanzen könne – das fiele hier nun wirklich nicht weiter auf. Recht hat sie ja, und nachdem sie mir ein Glas Sekt von der Bar geholt hat, geht es dann sogar ganz gut. Sandra hat ihren Typen erspäht, der mit einem anderen Mädchen hier ist und ziemlich einen drauf macht beim Tanzen. Ich möchte noch so ein Sektchen haben und reiche sie an einen Jüngling weiter, der sie schon die ganze Zeit ansieht.
Hinter der Bar steht ein junger Mann im weißen Hemd, der geschickt und schnell die Sekttulpen füllt. Ich beobachte das fasziniert, das sieht irgendwie interessant aus. Und dann fragt mich der Kerl doch glatt, ob ich vielleicht ein Foto von ihm haben will. Als ich dann nach einer Antwort suche auf diesen blöden Spruch, fallen mir die Augen von dem Kerl auf. Blau wie das Meer in der Karibik sind die, und sitzen in einem sehr netten Gesicht mit Dreitagebart. Lange Haare, Pferdeschwanz, schlank ... mir wird schwindelig, obwohl ich noch gar keinen Sekt bekommen habe. Die Antwort bleibe ich schuldig – ich starre ihn einfach noch ein wenig an. "Ich heiße Joachim." Ganz nebenbei sagt der das, während er eine Flasche aufmacht und weiter Sektgläser füllt. "Christoph", murmele ich. Zu mehr fühle ich mich nicht in der Lage.
Als er mir ein Glas rüberreicht, berühre ich mit den Fingerspitzen seine Hand, und dann weiß ich, wieso ich hier und jetzt genau an diesem Ort stehe und vermutlich dämlich aussehe. Ich weiß es hundertprozentig genau und beschließe, Sandra etwas zu schenken. Ach was, schenken ... ich trage jeden Tag ihre Mappe, egal was sie alles hineingestopft hat, bis wir unseren Doktor gemacht haben. "Ich bin Student, helfe hier aus", klingt seine Stimme an mein Ohr. "Medizin", sagt er dann noch, und ich denke, dass ich auch bald einen Arzt brauche, wenn der mich noch einmal so angrinst. Ich lass mir noch ein Glas geben und gehe auf unsicheren Beinen Sandra suchen. Die steht mit dem Jüngling an der Wand und unterhält sich prächtig.
Die beiden sind hocherfreut und grapschen nach den Sekttulpen. Ist mir recht, sehr recht sogar, denn ich brauche einen Vorwand und steuere wieder auf die Bar zu. Er sieht mich von weitem schon kommen, lächelt und stellt was vor mich hin. Ist allerdings Mineralwasser. Der Junge denkt mit, das steht fest – und ich höre ihm zu, was er so erzählt und betrachte sein Gesicht, bin einfach nur happy, hier zu stehen und ihn anzugucken.
Irgendwann zupft mich Sandra am Ärmel. "Wir müssen los, noch bei mir vorbei, die Klamotten abliefern." Sie hat eine leicht verschliffene Aussprache, die Gute. Ich bin so durcheinander, dass ich mich einfach mitziehen lasse. Bei Sandra schlüpfe ich wieder in meine ausgebeulten Sachen und fühle mich ziemlich deprimiert – mir ist, als zöge ich mein altes Ich wieder über. Zu Hause lege ich mich hin, schlafe unruhig, werde wach, als ich die Stimmen der Familie höre. Klar, haben wieder gewartet, bis wirklich der letzte Walzer gespielt wurde. Das Aufdonnern muss sich ja schließlich lohnen. Dann sacke ich weg.
Der nächste Tag läuft echt mies an, ich bin gereizt und fauche jeden an, der mich anspricht – sogar meinen alten Herrn, der gequält ein Aspirin nimmt und zu viel Kaffee trinkt. Ich kann das Gegacker nicht mehr hören – scheinbar haben meine entzückenden Schwestern jeweils jemanden kennen gelernt. Als die Haustürklingel anschlägt, zuckt Vater zusammen und verzieht sich in sein Arbeitszimmer. Wird Sandra sein oder ein Verehrer der Mädels, ich hab keine Lust auf Besuch. Dann höre ich, wie Mom sagt: "Christoph ist hier, kommen Sie doch herein, junger Mann." Und dann steht der Traum von gestern im Zimmer und grinst genauso wie in meinen Träumen. Und sieht immer noch genauso gut aus. Und ich sitze her, strubbelig und in schlabbrigen Jeans mit einem Pokemon-Shirt. Mein Gott, ist das peinlich.
Alle starren Joachim an, und der strahlt wie eine Heizsonne, zwinkert mir zu und fragt, ob ich Lust auf einen Neujahrsspaziergang habe. Als wir draußen sind, frage ich, woher er meine Adresse weiß und meinen Nachnamen. "Sandra", sagt er. Und hängt sich bei mir ein. Und dann sagt er noch, dass er mich so toll fand, dass er Sandra anrufen musste. Er kennt sie vom Sehen, sagt er noch. Und er kennt ihren Namen. War einfach, ihre Nummer rauszukriegen. Und ich hör wieder nur zu, gehe neben ihm her und weiß, dass dieses Jahr ganz anders wird als die anderen vorher. Und dann nimmt er meine Hand.
© "Aschenbruder im Frauenhaushalt": Ein romantisches Antimärchen von Winfried Brumma (Pressenet), 2011. Bildnachweis: Smiley mit Kuss, CC0 (Public Domain Lizenz).
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