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"Einer ist des anderen Wolf" – dieses Sprichwort weist darauf hin, dass unsere Gesellschaft nicht gerade aus sanften Lämmern besteht, sondern aus bösen Raubtieren, die sich untereinander jagen und fressen.
Von einem Wolf im Schafspelz wird gesprochen, wenn freundliches und charmantes Gebaren die inneren bösen Absichten verbergen soll. Und überhaupt ist der Wolf übelst beleumundet gewesen durch die letzten Jahrhunderte, jedenfalls in unserem Kulturkreis. Da werden aus den eigentlich eher scheuen Caniden mörderische Räuber, die sogar Menschen anfallen und fressen.
Neben den Bären waren die Wölfe lange Zeit die größten Beutejäger in Europa und hatten schon allein deshalb Anspruch auf den Titel "Menschenfeind Nr. 1". Sonderbarerweise sind Bären nicht so negativ belegt, obwohl sie sehr gefährlich werden können. Ihnen fehlt ein Gutteil der Scheu, die Wölfe dazu bringt, den Menschen auszuweichen. Der böse Wolf, der auch in einigen Märchen und Legenden eine Hauptrolle spielt, ist erst in den letzten Jahren zu so etwas wie einer Rehabilitation gekommen, was er nicht zuletzt den Verhaltensforschern zu verdanken hat. Fachleute, wie zum Beispiel der Zoologe Erik Zimen oder der Biologe Farley Mowat, haben sich intensiv mit dem Wolf befasst und durch ihre Publikationen mit sehr vielen alten Vorurteilen aufgeräumt. Letzterer ist auch Schriftsteller und Naturforscher und hat seine Erfahrungen mit Wölfen in einem ebenso unterhaltsamen wie interessanten Buch verarbeitet.
Mowat sollte nach Beendigung seines Studiums im Auftrag der kanadischen Regierung das Fress- und Jagdverhalten der Tiere beobachten, da man befürchtete, dass die Karibuherden von den Wölfen Kanadas zu stark dezimiert werden würden. Doch was der Forscher herausfand, gefiel den Verantwortlichen, die wohl gerne zum großen Halali geblasen hätten, nicht, denn Mowat konnte belegen, dass den Wölfen mehr Mäuse als alles andere zum Opfer fallen. Die Karibujagd ist auch für die pelzigen Meister des Teamworks nicht einfach, obwohl sie vor allem die kranken und alten Tiere aus der Herde nehmen. Das bedeutet, dass die Wölfe die riesigen Populationen gesund erhalten. Das ist hier in Europa ebenso gewesen, gewissermaßen funktionierte alles perfekt – bis die Menschen sich ausbreiteten.
Man kann von einem wilden Caniden nicht verlangen, dass er die Hintergründe kennt, die dazu führen, dass schmackhafte und leicht zu greifende Beutetiere wie Schafe oder Ziegen wie für ihn bereitgestellt in Pferchen warten. Er wird das vermeintliche Angebot natürlich annehmen – vor allem, wenn er zunehmend darauf angewiesen ist, weil seine Jagdgründe langsam verschwinden. Doch trotz dieser Tatsachen hielten sich die Überfälle auf die Herden der Menschen in Grenzen. Zum einen, weil diese sich durchaus zu schützen wussten – zum anderen, weil Wölfe sich normalerweise von Menschen fernhalten, wenn sie es können. Es ist anzunehmen, dass ein guter Teil der gerissenen Tiere auf das Konto von verwilderten Haushunden ging und immer noch geht.
Wo Viehhalter auf eine gute Entschädigung von der Regierung hoffen können, wenn ihre Tiere gerissen werden, gibt es mehr Verluste, die gemeldet werden. Da der Wolf aber immer noch den Ruf des bösen und mächtigen Räubers hat, wird immer noch gerne zur Flinte gegriffen, wenn der Ruf "Wolf, Wolf" ertönt. Das hat allerdings mehr mit archaischen Ritualen zu tun als mit realen Bedrohungen, denn hierzulande ist es mangels Löwen nun mal ein Traum vieler gestandener Jäger sich als Bezwinger eines Graurocks fühlen zu können. Das wertet so schön auf, denn wer die Bestie meistert, ist stärker als sie.
Was die Gefährlichkeit angeht, so hat ein Verhaltensforscher einmal gesagt, dass er im Wald lieber einem Wolf begegnen würde als einem verwilderten Hund – der Wolf flieht den Menschen, der Hund aber hat diese Scheu verloren und ist eher zu einem Angriff bereit. Man konnte den Wölfen im Übrigen kaum Angriffe auf Menschen "nachweisen", die Geschichten sind meist erfunden. Tatsächlich sollen sie Schlitten verfolgt haben ... der Pferde wegen. Es ist auch nicht wirklich nachvollziehbar, denn zu jeder Jahreszeit ist ihr Tisch gedeckt, außer in Gegenden, wo der Mensch die Natur verdrängt hat. Doch sie sind Wanderer – trotz ihrer territorialen Bindung – und ziehen fort, wenn das Land leer wird.
Auf sonderbare Weise berührt uns der Wolf am stärksten, ob nun im Guten oder im Bösen. Weitaus angriffslustiger als Isegrim ist ein Wildschwein – ein wütender Keiler ist ein Gegner, den niemand wirklich haben will. Schlau, stark, schnell und sehr hartnäckig in der Verfolgung ist so eine Lokomotive auf kurzen Beinen. Vor Erfindung der Feuerwaffen gab es bei einer Sauhatz meist Verletzte oder sogar Tote unter den Treibern und Jägern. Aber niemals rückten diese Tiere so in den Fokus wie die Wölfe – es gibt so gut wie keine Legenden vom "bösen Keiler". Was also berührt uns gerade am Wolf so sehr, dass wir ihn entweder abgrundtief hassen und fürchten, oder ihm aber verfallen?
Die Indianer Nordamerikas sahen in den Wölfen übrigens Verwandte, von denen sie lernen konnten, sie bewunderten die soziale Struktur der Rudel und sahen allein deswegen die pelzigen Jäger als den Menschen nahe an. Aber wie auch immer, wer sich die Zeit nimmt, um sich mit ihnen zu beschäftigen, lernt sie zu schätzen und zu lieben – der Blick eines Wolfes hat nichts Böses oder Unheimliches, sondern etwas Berührendes.
Würden wir lernen, die notwendigen Flächen zu schaffen, damit die Natur walten kann, ohne dass wir zu sehr eingreifen und auf die Selbstheilung der Erde vertrauen, könnten wir die Wölfe wieder willkommen heißen. Würden wir die Flinten weglegen und die so gewonnene Zeit für wichtige Dinge nutzen, ließen wir den Wolf tun, wozu er geschaffen ist – dann wäre dies ein erster Schritt vorwärts in eine Zukunft. Denn es ist längst nicht mehr sicher, dass wir eine haben werden – dazu brauchen wir das biologische System der Erde. Stirbt sie zu einem Steinhaufen in der Galaxie ab, sterben wir alle.
© "Der Jäger mit den magischen Augen": Textbeitrag und Abbildung von Winfried Brumma (Pressenet), 2011.
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