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Irgendwo im Osten, in irgendeinem "Schtetl", wie die jüdischen Stadtteile oder Dörfer hießen, lebten vor langer Zeit fromme Juden, so wie sich das schickt und wie es gar nicht anders sein kann. Die kleine Gemeinde, von der hier die Rede ist, war arm und nur wenige gingen des Abends in die Schlafkammer, ohne eine ganze Menge von Sorgen, neben den geflickten Schuhen davor, zurückzulassen. Die warteten ebenso unfehlbar am nächsten Morgen wie die Pantinen, aber man gewöhnt sich an vieles, wenn man muss.
Man trieb die mageren Ziegen auf die ebenso mageren Wiesen, man pflanzte hier und da und behalf sich, so gut es eben ging. Und vor allem half man sich untereinander, so wie das sein muss, wenn keiner viel hat. Nun kam eines Tages einer der Allerärmsten zum Rabbiner, um diesem sein Leid zu klagen. Denn das Amt des Rabbis beinhaltet vor allem, dass er den Mitgliedern seiner Gemeinde, so gut wie er vermag und mit aller Gelehrsamkeit, mit Rat und Tat zur Seite steht. Und das war zu keiner Zeit wenig, denn Wissen und Weisheit gilt viel bei den gläubigen Kindern Israels.
Der Mann nun betrat die kleine Stube des Rabbiners, der mit dem Finger die Zeilen eines aufgeschlagenen Buches entlangfuhr und dazu lautlos die Lippen bewegte, während sein Weib sich am Herd zu schaffen machte. Von einem Rabbiner wird der Ehestand erwartet, denn – so kann man sich fragen – wie soll er die Nöte und Sorgen seiner Gemeinde verstehen, wenn er nicht die Last und Freude des Familienlebens kennt. Nun grüßte die Rabbanu den Eintretenden freundlich und stellte einen Becher mit gesüßtem Wasser für ihn hin. Da bemerkte auch der Rabbi den Besucher und runzelte die Stirn, nicht etwa aus Unfreundlichkeit, sondern weil er sich nicht so leicht von seinem Buch lösen konnte.
Der Besucher trat zum Tisch und setzte sich auf eine einladende Geste des Rabbis auf die grobe Holzbank – man merkte ihm an, dass er sich nicht sehr behaglich fühlte. Er drehte seine fadenscheinige Mütze in den Händen und wusste nicht so recht, wie er anfangen sollte.
"Was hast du auf dem Herzen, Chaijm?" Die tiefe und ruhige Stimme ermunterte den Angesprochenen, und er begann zu sprechen: "Rabbi, ich weiß nicht, wie ich es aushalten soll, es geht einfach nicht mehr so. Mein Weib, meine vier Kinder und ich, wir haben kaum Platz mehr in der Hütte. Wir treten uns auf die Füße, wir rempeln uns und alle schreien durcheinander. Die gute Frau keift von morgens bis abends und die Kinder heulen. Rabbi, ich kann nicht mehr." Nachdem er sein Problem so vorgebracht hatte, senkte der Mann den Kopf und wartete auf die Antwort des Rabbiners. Der ließ eine Spanne Zeit verstreichen und fragte dann: "Chaijm, hast du Ziegen?" "Ja, die habe ich, vier Stück magere Geißen sind es. Und Hühner haben wir vier, dazu zwei Gänse und auch den alten Hund."
Immer noch drehte Chaijm die Mütze in den Händen, sah aber seinem Gegenüber erwartungsvoll in die Augen hinter den dicken Augengläsern. Und dann sagte der Rabbi: "Chaijm, nimm die Ziegen, die Hühner, die Gänse und auch den Hund zu euch in die Hütte. In vier Wochen, Chaijm, kommst du wieder zu mir."
Das Bäuerlein starrte mit offenem Munde: "Aber Rabbi", stammelte er dann, "Rabbi, wie soll das gehen ... habt Ihr mich denn nicht verstanden?" Aber der Gelehrte lächelte nur und entließ Chaijm mit einer Handbewegung. Der trank hastig den irdenen Becher leer und ging.
Nach der festgesetzten Zeit sprach er wieder vor, mit sorgenvollem Gesicht und fahrigen Bewegungen. "Hast du getan, was ich dir sagte, Chaijm?", fragte der Rabbi ihn. "Das habe ich, und es war so schlimm wie nie zuvor. Ihr müsst mir helfen, denn es ist doch zu arg geworden." Da nickte der Rabbi und meinte: "Bring die Tiere wieder aus der Hütte. Ziegen, Hühner, Gänse und Hund. Und komm in drei Tagen wieder."
Schulterzuckend ging Chaijm nun von dannen und fragte sich, was daraus wohl werden sollte. Doch tat er genau das, was ihm der Rabbi geboten hatte. Und nach drei Tagen kam Chaijm wieder, lächelnd und in bester Stimmung. Und er küsste dem Rabbi die Hand und sagte: "Ich danke euch, ich danke euch. Jetzt haben wir, nachdem die Tiere draußen sind im Stall, so viel Platz. Wir sind so glücklich, und mein Weib und meine Kinder sind so fröhlich wie lange nicht." Und als er, ein Liedchen pfeifend, wieder gegangen war, da setzte sich der Rabbi leise lächelnd an seine Studien. Und seine Frau lächelte auch.
© Textbeitrag "Die dehnbare Hütte – Last und Freude des Familienlebens": Winfried Brumma (Pressenet), 2011. Bildnachweis: Comic Figuren ethnische Juden, CC0 (Public Domain Lizenz).
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