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Viele werden sich noch an die Mahnungen der Kindheit erinnern: "Du darfst nie etwas trinken, wenn du Steinobst gegessen hast." Die Folgen eines solchen Fehlgriffes wurden dann so blumig geschildert, dass die allermeisten lieber verdurstet wären, als eine Limo auf die bereits verspeisten Kirschen zu schütten. Ein anderes Tabu war warmer Kuchen, denn der brachte unweigerlich schlimmes Bauchweh. Zu viel Eiscreme machte mit Sicherheit sterbenskrank und wer einen Kaugummi schluckte, konnte mit seinem baldigen Ableben rechnen.
Die Schauermärchen, die sich um das liebe Brot – und alles was dazugehörte – rankten, hatten hier und da einen tatsächlichen Hintergrund, aber das wusste keiner. Eigentlich wurde das Gehörte von Generation zu Generation weitergegeben – man nahm das so hin, ebenso wie die warmen Halswickel bei Mandelentzündung oder die fürchterlich heißen Zitronensäfte, die da Abhilfe schaffen sollten. Das taten sie natürlich nicht, denn die Zufuhr von Vitamin C konnte von der verbrannten Zunge erst einmal nicht wirklich ablenken. Aber "heiß" war nun einmal oberster Grundsatz, ob das nun verträglich war oder nicht.
Überhaupt legten die Eltern oder Großeltern sehr viel Wert auf unangenehme Kuren, denn was helfen sollte, musste unangenehm sein, sonst war es umsonst. Dieser Aberglaube hielt sich noch sehr lange und vergällte vielen Schulkindern die mit Krankheit entschuldigten freien Tage. "Viel hilft viel" war ein ähnlicher Glaubenssatz, der dazu führte, dass in vielen Fällen weit über das Ziel hinausgeschossen wurde und aufzeigte, dass sogar die alten Hausmittel nicht völlig frei von Nebenwirkungen waren.
Was im kriegsgebeutelten Europa kein Thema war, nämlich das Abnehmen und die dazu notwendigen Diäten, wurde mit dem Wirtschaftswachstum zu einem unerschöpflichen Sagen- und Legendenschatz. Als findige Hersteller herausfanden, was man mit Milchprodukten alles anstellen kann, tauchte aus dem Nichts die feste Überzeugung auf, dass Joghurt schlank macht. Und von Stund an versuchten sich viele Wohlstandsbürger eine niedrige Konfektionsgröße anzulöffeln – allerdings nahmen sie die meist stark gesüßten und mit Fruchtaromen angereicherten Weichmassen zusätzlich zu Eisbein und Pasta ein. Der Erfolg blieb aus, man hatte die Gebrauchsanweisung nicht durchgelesen.
Aus Amerika war zu dieser Zeit längst ein äußerst lecker schmeckendes und überaus zuckerhaltiges Getränk herübergeschwappt, das sogleich verteufelt wurde. Wahrscheinlich von den hiesigen Limonadenherstellern, die sich schwarzärgerten, weil sie die Idee nicht hatten. Legt man, so hieß es, ein Stück Fleisch über Nacht in Coca-Cola ein, ist es am nächsten Tag entweder verschwunden oder aber zum größten Teil zerfressen. Man überließ den Konsumenten, sich die Wirkung auf die Magenschleimhäute auszumalen. Die aber malten sich gar nichts aus, denn Coke gehörte einfach dazu. Die Sache mit dem Fleisch ist übrigens völliger Unsinn – trotzdem ist diese Koffeinlimo sehr gefährlich – vor allem für die Taille, denn der Zuckergehalt ist enorm.
Vorsichtige Eltern gaben übrigens ihren Sprösslingen nach achtzehn Uhr nichts mehr zu trinken, damit das Bett auch trocken blieb. Das hatte nicht selten der Kinderarzt geraten – heute stehen allein bei dem Gedanken jedem Mediziner die Haare zu Berge. Überhaupt das Trinken – soviel Flüssigkeit wie möglich ist momentan der gültige Glaubenssatz, und manche Menschen quälen sich literweise Mineralwasser in den Körper, ob der nun danach verlangt oder nicht. Man kann nämlich, das ist erwiesen, tatsächlich zu viel trinken. Berufstätige, die nicht jederzeit die Toilette aufsuchen können, werden das bestätigen. Der lange Zeit auf dem Index der Laienmediziner stehende Kaffee ist mittlerweile rehabilitiert, denn man darf ihn jetzt als Getränk sehen. Das bedeutet in der Praxis, dass er mitgezählt werden kann. Schließlich besteht er ja auch fast nur aus Wasser, wie der logisch denkende Mensch schon die ganze Zeit argwöhnte.
Als der Weisheit letzter Schluss galt das salzlose Leben – viele Menschen denken mit Schaudern an die Schonkost, die man in den Kliniken bekommt, und die Salzstreuer verschwanden auch von den privaten Esstischen. Man gewöhnt sich übrigens sehr schnell an salzlose Kost, fad schmeckt es nur am Anfang. Die natürlichen Aromen der Speisen kommen wieder zum Tragen, insoweit ist es ein positiver Effekt. Allerdings kann man jetzt wieder lesen, dass zu wenig Salz gefährlich sein kann, und wieder ist der Verbraucher völlig verwirrt. Die praktisch in Stein gemeißelte Verbindung zwischen Bluthochdruck und Salz beginnt zu bröckeln – schließlich gibt es, so erfährt man verwundert, keinen bewiesenen Zusammenhang. Außer bei den Laborratten – aber die haben sowieso eine niedrige Salztoleranz.
Also fragt man sich, schmeißen wir jetzt den ganzen auswendig gelernten Katechismus wieder einmal über den Haufen und essen was uns schmeckt? Seien wir da lieber etwas zurückhaltend, denn man weiß ja nie, was uns als Nächstes schmackhaft gemacht wird.
© "Esszimmer-Legenden – Gesundheit und Aberglaube": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2011. Bildnachweis: Gastronomie, CC0 (Public Domain Lizenz).
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