|
Thornton Wilders Romanfigur, der dreißigjährige Theophilus North, kommt in den Sommermonaten nach Newport. Er entdeckt für sich diese Stadt in Rhode Island und durchquert in gewisser Weise alle dort etablierten Schichten. Er erkennt zu seinem Erstaunen, dass es eigentlich weit mehr als ein Newport gibt – je nachdem, wo man lebt. Und der Leser erkennt auch etwas ... dass nämlich die Entdeckung des Mr. North auf alle Städte der Welt anwendbar ist, mag sie nun eine Metropole oder eine Kleinstadt sein.
Nach dieser Betrachtungsweise existiert also, um ein Beispiel zu nennen, ein Berlin der Reichen, der Mittelständler, der Armen, der Migranten, der Nachtarbeiter, des Rotlichtmilieus, der Hundehalter oder der städtischen Angestellten. Natürlich kommen weit mehr zusammen als nur neun Städte. Die Rede ist nicht von Stadtvierteln, sondern von ein und denselben Straßen, Plätzen und Gebäuden. Wer in einer Mietskaserne aufwächst und lebt, nimmt die Stadt völlig anders wahr als jemand, der mehrere teure Autos auf dem Privatparkplatz stehen hat. Für den eher bescheiden Lebenden ist es ein Berlin der Straßenbahnen und Discountläden, oder ein Berlin, das unfreundlich sein kann an einem kalten Morgen. Die Stadt ist für ihn völlig anders.
Der Reiche hat keinerlei Vorstellungen von den Wartebuchten an den Haltestellen, er kennt nicht die Risse im Straßenpflaster. Er kann dafür stundenlang über Parkmöglichkeiten sprechen und sieht keine kalten Straßenecken, sondern eine Reihe hell erleuchteter teurer Läden und Treffpunkte. Sogar die Hundehalter haben eine eigene Stadt in der Stadt. Sie nehmen alles vom Ende der Leine aus wahr – da gibt es Automaten mit Hundetütchen, oder es gibt grüne Streifen, wo Bello morgens schnell seinen Geschäften nachgehen kann. Die jeweilige Tour richtet sich nach der Zeit und natürlich auch nach der Größe des Hundes. Manche Ecken vermeidet man, denn man könnte unfreundlichen Menschen begegnen, die jeden kleinen Dackel als den Widersacher alles dessen, was sauber und hygienisch sein soll, sehen.
Jeder Einwohner hat seine Fixpunkte, die er mit gedanklichen Linien verbindet – der eine nimmt Tanztempel und Diskotheken wahr, während ein anderer seine Stadtkarte nach Banken markiert oder nach Boutiquen und Parkanlagen. Die vielen verschiedenen Städte berühren sich nicht, sie existieren nicht im selben Kontinuum, wenn auch am selben Ort.
In den virtuellen Riesenmetropolen ist es nicht anders, man denke an das gigantische Google+ ... die größte Stadt der Welt mit ihren Fixpunkten, den Circles. Es gibt das Google+ der Geschäftsleute, der Künstler, der Einsamen, der Prostituierten, der politisch Aktiven, der Intellektuellen und natürlich auch der Jugendlichen und Senioren, der verschiedenen Nationalitäten und Kulturen. Die Bedienung ist dieselbe – aber so mancher würde es nicht glauben, wenn man ihm Beiträge von einer anderen Wahrnehmungsebene zeigen würde – wahrgenommen wird nur, was passt. Alles andere kommt nicht bis in die tatsächliche Wahrnehmung.
Es gibt das Google+ derer, die ihre Geschäftslinks posten, derjenigen, die interessante Nachrichten und Kulturelles auf ihrer Seite haben – es gibt diejenigen, die sich mit ihren Bekannten austauschen oder virtuelle Freunde aus anderen Ländern suchen. Dann kann auch die Existenz der Rotlichtzone nicht abgestritten werden, ebenso wenig wie die der religiösen Eiferer oder Loboisten, die diktieren, wo es langgehen soll. Natürlich haben auch solche, die jede Mahlzeit fotografieren, die sie zu sich nehmen und dann öffentlich zeigen, eine eigene Plattform innerhalb des Giganten.
Die vielen hundert Städte dieser gigantischen Wabe Google+ ergeben zusammen so etwas wie den Turm zu Babel. Das hatten wir ja schon einmal, und es ist erstaunlich, wie wenig sich verändert hat. Die Wahrnehmung ist immer und grundsätzlich erst einmal subjektiv.
Nachtrag im April 2019: Das soziale Netzwerk Google+ wurde eingestellt, nachdem ab Herbst 2018 gravierende Fehler festgestellt wurden. Zwei Datenpannen sollen sensible private Daten von Millionen Nutzern preisgegeben haben. Google zog daraufhin die Reißleine und löschte die Inhalte der Privatnutzerkonten von Google+.
© "Google+. Die neun Städte des Mr. North": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2011. Die Abbildung zeigt den Turm zu Babel, ein Gemälde von Lucas van Valckenborch (Lizenz: gemeinfrei).
Archive:
Jahrgänge:
2022 |
2021 |
2020 |
2019 |
2018 |
2017 |
2016 |
2015 |
2014 |
2013 |
2012 |
2011 |
2010 |
2009
Themen:
Rezensionen |
Krimi Thriller |
watzmann sage |
Ratgeber |
Sagen Legenden |
Fantasy Mythologie
Noch mehr Bücher lesen (Werbung):
Fantasy & Science Fiction
| Krimis & Thriller
| Ratgeber
| Reise & Abenteuer
Sie schreiben anspruchsvolle Romane und Erzählungen? Wir suchen neue Autorinnen und Autoren. Melden Sie sich!
Wenn Sie die Informationen auf diesen Seiten interessant fanden, freuen wir uns über einen Förderbeitrag. Empfehlen Sie uns auch gerne in Ihren Netzwerken. Herzlichen Dank!
Sitemap Impressum Datenschutz RSS Feed