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Hunger, weil man hilflos ist – nicht nur, weil man kein Geld hat. Ich habe diese Bilder gesehen und die Filme aus Somalia ... und meine Augen brannten. Sie haben gebrannt, aber ich habe keine Tränen verströmt wie die Frau meines Bruders, die jammerte und ein über das andere Mal "Die armen Kinder" sagte. Dann hat sie sich über ihr Abendessen hergemacht, dick mit Leberwurst bestrichene Brote und Kartoffelsalat mit Mayo. Die Buletten vom Mittag haben auch dran glauben müssen, wenn sie auch eine ihrem fetten Hund zugesteckt hat – unterm Tisch, damit mein Bruder es nicht sieht. Er mag das nicht, weil es ungesund ist für Hunde. Da hat er recht, das Vieh ist viel zu dick und wird nicht sehr lange leben.
Er ist wirklich kein schlechter Kerl, mein Bruder, aber er hat die Sache mit dem Nachdenken aufgegeben. Seine Frau mümmelt immer noch was von den Kindern in Afrika vor sich hin, während sie ihre Cola zum Essen schlürft. Er sollte ja Diät halten, sein Blutdruck ist viel zu hoch, aber er hat auch das aufgegeben, weil seine Frau und die Kinder ständig am Mampfen sind. Mich laden sie ständig zum Essen ein, weil "ich es doch nicht so dick habe". Klar, das ist wohl so, aber "dick" will ich es auch nicht.
Immer läuft das so ab, dass ich ankomme und Kaffee kriege, dann die Jammerarie von der Rollmopskönigin anzuhören habe – ist wahrscheinlich der Ausgleich für erwiesene Wohltätigkeiten. Dann, so nach ihrem zweiten Kuchenstück, hat sie sich in Stimmung gemampft und bringt sich in Stellung. Dass es ihnen so schlecht geht, denn alles ist ja so teuer geworden.
Ich denke an die vier Fernseher in ihrer Wohnung, einen für jedes Zimmer. Zwei PCs für die Kinder, die im Grunde nur zwischen ihren Schreibtischen und dem Kühlschrank hin und her pendeln, wenn sie daheim sind. Das sind sie meist, denn freiwillig bewegen sie sich nicht. Die Kleine kann die Shirts ihrer Mutter tragen, das mit elf Jahren. Aber ich sage nichts dazu, weil ich weiß, was als nächstes kommen wird.
Mein Solarplexus fühlt sich steinhart an, ich verkrampfe mich immer noch. Dass ich ja so Pech gehabt habe mit der Kündigung (ist ein Jahr her). Ihr süßlicher Tonfall und der schnelle Blick aus ihren kleinen Augen, die zwischen den Fettpolstern fast verschwinden, sprechen eine andere Sprache, die Sprache ihrer ganz persönlichen Wahrheit. Irgendwie muss ich doch schuld daran sein, dass man mir nach 14 Jahren gekündigt hat. Ich weiß, dass sie das denkt.
Dann kommen ihre guten Ratschläge, denn wenn man sich genug anstrengt, bekommt man Arbeit – das weiß sie hundertprozentig. Aus eigener Anschauung kann sie das allerdings nicht wissen, ihr Babyurlaub begann kurz nach der Heirat – und dauert bis heute. Das sind fünfzehn Jahre, so alt ist ihr Sohn. Der kommt kurz in die Küche, die Ohren zugestöpselt und mit abwesendem Blick – die Sporthose hängt ihm unter dem vorstehenden Bauch. Er wirft keinen Blick in meine Richtung, ich existiere nicht für ihn. Für seine Mutter schon, die hat ihre Pflicht hinter sich und beginnt nun die Kür. Ich soll doch ... dann folgen die Namen von allen möglichen Firmen, bei denen ich allerdings selber schon mehr als einmal nachgefragt habe.
Es läuft darauf hinaus, dass sie meinesgleichen nicht mehr durchschleppen kann, denn sie müssen sparen. Ich schaue auf das Chaos aus Tüten, Krümeln, Kuchenstücken und Süßigkeiten auf dem Tisch und denke an Somalia, denke an Mütter, die ihren Kindern beim Sterben zusehen. Diese hier jammert über die Kosten für die Nagelmodellage, die immer höher werden, sieht ihre Kinder kaum an, wenn sie von ihnen angesprochen wird – was zugegebenermaßen selten vorkommt.
Ich beschließe wieder einmal, nicht mehr herzukommen. Ich wohne nur drei Häuser weiter, sie hält mich an auf der Straße, wenn ich mich rar mache und sagt, so laut sie kann, dass ich doch vorbeikommen soll, weil immer was zu essen für mich da ist. Wo ich doch arbeitslos bin. Und ich mag meinen Bruder. Während sie redet und redet, überschlage ich meine Finanzen, um auszurechnen, wie viel ich spenden könnte. Ich vertraue den Organisationen nicht, aber ich werde es tun. Ich hab was zurückgelegt, so etwa zwanzig Euro an Kleingeld. War für Stiefel gedacht, weil es auf den Winter zugeht. Das werde ich nehmen dafür ... ich muss das tun, weil ich die Kinder mit in den Schlaf nehme und morgens mit ihnen aufwache.
Sie hat mich etwas gefragt – ich habe nicht zugehört, weil ich die mageren Kinder vor mir sehe, die um den Tisch stehen und verständnislos das fettige und süße Zeug anstarren, das auf dem Tisch aufgebaut ist. Sie wissen nicht, dass man das essen kann. Ich schüttel den Kopf, um dieses Bild zu vertreiben und um herauszubekommen, was sie von mir will. Ah ja, sie fragt mich wieder ab wegen meiner Bewerbungen. Meine Gedanken driften wieder ab – ich frage mich, was man Menschen gibt, die kurz vor dem Hungertod stehen. Milch? Suppe? Ihre fette Stimme dringt zu mir durch, schließlich meine sie es ja nur gut. Ich starre sie an, die Frau, die immer noch essend an ihrem Tisch sitzt und sich von mir ausgenutzt fühlt, weil ich "von ihr lebe". Schließlich muss sie ja für Leute wie mich aufkommen, nicht wahr.
Immer noch sehe ich die hungerkranken Menschen, die Küche ist voll von ihnen. Meine Schwägerin, das ist sie wohl, diese lamentierende Person, schiebt mir ein Teilchen zu. Ich rieche die widerwärtige Süße geradezu, mein Magen hebt sich. Wir, die Hungernden und ich, wir können das nicht anrühren. Ich atme flach, damit ich mich nicht übergeben muss, als die Türe aufgeht und mein Bruder hereinkommt. Er ist dick, ja das ist er ... aber sein Blick ist der wie dieser Kinder und Mütter im Raum, die nur ich sehen kann: Gleichzeitig hungrig und abgestumpft. Ich stehe auf und wir verlassen den Raum, die Schatten und ich ... ich wünschte, er käme mit uns. Er müsste wie wir nie mehr hierher zurückkommen.
© "Der Hunger der Anderen": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2011. Die Abbildung zeigt eine hungernde Frau und Kinder (Quelle: Wikipedia, Lizenz: gemeinfrei).
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