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Sie suchte in ihrer Stofftasche nach dem Schlüssel, dabei sah sie über die Schulter in die Dämmerung. Als ihre Finger endlich den Schlüsselbund fassten, atmete sie auf und schloss langsam die schwere Haustüre auf. Das Treppenhauslicht war nicht besonders hell und der Zeittakt war auch nicht allzu großzügig, aber es reichte, um die Tür zu ihrer Parterrewohnung zu erreichen und sie aufzuschließen.
Es roch nach Kühle und ein klein wenig nach Schimmel im Haus, aber das nahm sie kaum wahr. Innen bei ihr in der Wohnung war das sowieso anders, hier legte sie Wert auf angenehmen Geruch. Es könnte ja sein, dass er plötzlich an der Tür schellte und hereinkommen wollte. Aber das hätte natürlich nicht passieren können, denn sie hatte auf lange Sicht noch keine Entscheidung getroffen. Es war ihr nicht leicht gefallen, oh nein, das war es nicht. Sie hing ja so an Oskar – kannte ihn doch schon, seit er ein Baby gewesen war.
Er hatte sich nie viel aus Hunden gemacht, er nannte sie "Flohtransporter". Sie ließ Oskar bei ihren Eltern, besuchte ihn aber in den ersten Wochen oft. Er wusste das und schätzte es überhaupt nicht. "Du riechst schon wieder nach Hund", sagte er dann mit diesem kalten Blick. Sie ging dann seltener, bis sie die Besuche auf die Gelegenheiten beschränkte, bei denen sie zusammen zu den Eltern gingen ... wenn Papa oder Mama Geburtstag hatten oder an ähnlich wichtigen Tagen. Oskar freute sich wie wild, wenn sie kam. Er sprang an ihr hoch und winselte und schaute sie aus seinen warmen braunen Augen glücklich an. Lange konnte sie sich nicht mit ihm abgeben, damit sich ihr Mann nicht darüber aufregte. Aber es brach ihr jedes Mal fast das Herz, wenn der Hund traurig davonschlich, weil sie ihn fortschickte.
Und dann starben ihre Eltern und Oskar hatte kein Zuhause mehr. "In meine Wohnung kommt das Vieh nicht, das merk dir!", hatte er gebrüllt. Und sie hatte geweint und gebettelt, hatte Oskar im Arm gehalten und seine graue Schnauze an ihre Brust gedrückt. Er war alt geworden, so alt. Und hilflos war er auch, er konnte nicht mehr so schnell ausweichen, wenn ihr Mann nach ihm trat. "Der Köter oder ich", hatte er gesagt. Und dann hatte er noch gesagt: "Ich gehe aus, aber wenn ich wiederkomme, ist das Vieh weg – sonst packe ich auf der Stelle meine Sachen." Dann war er rausgestürmt aus der Wohnung.
Sie wusste wohin er ging, und es tat ihr weh. Und Oskar schnaufte glücklich, weil sie ihn an sich drückte. Aber sie musste sich nun einmal entscheiden – er hatte es gesagt. Und sie entschied sich, weinend und schluchzend und den Hund streichelnd – bis er für immer einschlief. Er hatte ihr immer vertraut, er fraß ihr alles aus der Hand. Auch diesmal. Jetzt konnte sie nur noch warten – warten, bis sich der Schlüssel im Türschloss drehen würde und er hereinkam zu ihr. Er würde sehen, was sie für ihn getan hatte und er würde es verstehen, würde erkennen, was er ihr bedeutete. Auch wenn es noch so schwer gewesen war, sie hatte sich entschieden. Auch wenn ein Stück ihrer Seele fehlte.
Sie setzte sich, noch im Mantel, an das Fenster und sah auf die mittlerweile völlig im Dunkeln liegende Straße hinaus. Wenn sie ihn kommen sähe, würde sie aufspringen und Teewasser aufsetzen, Brot belegen und den Tisch für ihn decken. Wenn sie nur nicht so müde wäre, so fürchterlich müde nach ihrer Entscheidung. Langsam fiel ihr Kopf auf die Brust und sie schlief ein, die Hände im Schoß um die Dose mit der verblichenen roten Aufschrift gefaltet. Sie erwachte nicht vom wiedererwachenden Verkehr in der Straße, sie hörte auch nicht die beiden Frauen, die vor ihrer Haustür miteinander sprachen. "Die muss doch über die siebzig sein, die Alte, die da im Erdgeschoss wohnt, oder? Lebt die denn ganz allein?"
Die andere antwortete mit einem Blick zum Erkerfenster: "Die wohnt schon immer hier, seit ich denken kann. Meine Mutter hat erzählt, dass ihr Kerl mit einer anderen abgehauen ist, als sie noch nicht lange verheiratet war. Ist nie wieder aufgetaucht." Die Frauen tauschten ein verständnisvolles Lächeln, als eine weitere Frau mit einem Kind an der Hand vorbeikam und die beiden ansprach: "Haben Sie es schon gehört? Gestern Abend ist wieder ein Hund vergiftet worden hier im Viertel. Das geht nun schon seit Jahren so. Hoffentlich erwischen die den Kerl mal."
© "Oskar": Kurzgeschichte von Winfried Brumma (Pressenet), 2011. Bildnachweis: Haustier Hund, CC0 (Public Domain Lizenz).
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