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Sam Baker kam mit zornrotem Gesicht in die Küche. Jane, seine Frau, hatte den Frühstückstisch schön gedeckt und ihm ein handfestes Frühstück gemacht. Sie ahnte schon, warum ihr Mann vor Zorn beinahe platzen wollte. Auch ihre drei Kinder Sara, Michael und das Nesthäkchen Jenni verhielten sich ruhig, denn wenn ihr Papa, der seine Kinder liebte wie sonst nichts auf der Welt, zornig war, war es besser sich ruhig zu verhalten. Auch sie hatten schon die Gründe des Zorns ihres Vaters mitbekommen.
Auf der Südinsel Neuseelands in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Tiefebene des Tussock-Landes im Mackenzie-Plateau eine Schaffarm zu bewirtschaften ist harte Arbeit und in den ersten Jahren rentierte sich das nicht so sehr, man konnte gerade so überleben. Und doch mochten Sam und Jane mit niemandem tauschen – so wie alle ihre Nachbarn auch.
"Wie viele waren es denn dieses Mal?", fragte Jane.
"Es fehlen zehn Schafe", fauchte Sam. "Ich muss mal Joe Huntington fragen, ob bei ihm auch wieder Schafe fehlen – und unsere anderen Nachbarn haben mir auch schon bestätigt, dass ihnen Schafe fehlen. Keiner hat eine Ahnung, wo die Schafe sein könnten."
"Nun frühstücke erst mal", versuchte Jane ihren zornbebenden Mann zu beschwichtigen, "und nach dem Frühstück kannst du zu Joe gehen und ihn befragen."
Ein gemütliches Frühstück konnte man das nicht nennen und Jane war sehr darauf bedacht, dass wenigstens diese Mahlzeit mit ihrem Mann und den Kindern in Ruhe eingenommen werden konnte, was aber an diesem Morgen nicht funktionierte.
Als Sam bei Joe angekommen war, brauchte er diesen nicht zu fragen; er sah es ihm am Gesichtsausdruck an.
"Wie viele sind es denn bei dir?", fragte Sam.
Bei Joe waren es auch zehn Schafe.
"Weißt du schon, ob bei unseren anderen Nachbarn auch Schafe fehlen?", fragte Sam.
"Ja, ich habe schon mit ein paar von ihnen gesprochen, aber ich habe dann nicht gefragt, wie viele es bei ihnen waren. So langsam platzt uns allen der Kragen, denn es ist ja nicht das erste Mal. Wir können sicher sein, dass sie gestohlen wurden, denn so viele Schafe verlaufen sich nicht. Es sind immer nur ganz wenige, damit es nicht auffallen soll. Wer weiß denn schon, ob wir jemals wissen werden, wer die Diebe sind. Und die Diebe sind so geschickt vorgegangen, dass wir und unsere Schäferhunde gerade nicht an der Stelle waren, an der die Diebstähle passiert sind."
"Du meinst also auch, dass das nicht nur einer gewesen ist", meinte Sam.
Joe nickte grimmig: "Das kann ein einzelner doch gar nicht bewerkstelligen."
Sam, Joe und die Nachbarn konnten nichts weiter tun, als sich auszutauschen. Die Polizei wurde eingeschaltet, aber die kam nicht weiter; sie hatte keinerlei Anhaltspunkte und keine Spuren. Wacheschieben brachte nichts, denn die Schaffarmen waren riesig und weit auseinanderliegend und die Farmer selbst waren zu wenige, um im richtigen Augenblick an der richtigen Stelle auf der Lauer zu liegen. Sie hatten keine Ahnung, wie es weitergehen sollte, denn sie konnten sicher sein, dass sich ihr jeweiliger Schafbestand kontinuierlich verminderte. Irgendwann ein Mal waren sie ruiniert, denn noch mehr Verluste kostete sie ihre Existenz. Dazu kam noch das Misstrauen, das ihre gute Nachbarschaft auch ruinierte. Wenn das so weiterging. Ihnen konnte nur der Zufall helfen.
Am Abend trafen sich manche von ihnen gelegentlich in der Kneipe "Bacchus", in der auch der alte aus Schottland eingewanderte und in der Hochebene siedelnde James Mackenzie saß und genüsslich ein Bier oder auch zwei trank. Dies musste seine Stammkneipe sein, denn er hielt sich hier öfter auf als alle anderen hier.
"He, Mackenzie, fehlen bei Dir auch Schafe?", fragte Sam.
"Ja, natürlich, ich kann mir keinen Reim darauf machen, wo meine Schafe hingekommen sein könnten", sprach der alte, als wortkarg sowie als wunderlich und knorrig angesehene Schotte. Mehr brauchte man ihn nicht zu fragen, denn er hätte keine Antwort mehr gegeben. Mackenzie ließ niemanden an sich heran und die Farmer der Tiefebene ließen ihn in Ruhe. Über sein Privatleben wusste man nichts und es war Mackenzie wichtig, dass auch niemand etwas über ihn erfuhr.
+ + +
Eines Tages, es hatten bei Sam, Joe und den Nachbarn schon wieder Schafe gefehlt, besuchten diese eher zufällig den alten Mackenzie. Sie spannten ihre Wagen an und begaben sich auf die Hochebene.
Sprachlos starrten sich die Farmer der Tiefebene an. Durch Zurufe signalisierten sie, dass sie ihre gekennzeichneten Schafe wiedererkannten. Aber wie konnte das zugehen? Auf Mackenzie war niemand gekommen, denn die Schafe mussten zu dem Zeitpunkt gestohlen worden sein, als Mackenzie im "Bacchus" gesessen war und sein Bier getrunken hatte, und er selbst hatte doch glaubwürdig erklärt, dass ihm auch Schafe abhanden gekommen seien.
"Nun wissen wir, dass unsere Schafe bei Mackenzie sind, aber wie sind sie hierher gekommen, denn Mackenzie hat ja Alibis?", fragte Sam. "Hat er jemanden beauftragt, die Schafe zu stehlen, während er in der Kneipe gesessen hat? Er muss doch einen oder mehrere Helfer gehabt haben, denn alleine konnte er das nicht machen und irgendwie müssen die Schafe ja hierher gekommen sein. Oder könnte es sein, dass ihn jemand hereinlegt und wir sollen glauben, er sei der Dieb? Aber ihm muss doch auffallen, dass sich sein Schafbestand vermehrt, während sich unserer verringert. Dabei hat er uns glaubwürdig erklärt, ihm würden auch Schafe verschwinden. Aber wenigstens haben wir jetzt einen Anhaltspunkt und wir sollten ihn beobachten."
So sprachen sich die Farmer ab – von nun an lagen zwei immer auf der Lauer und Mackenzie bemerkte nicht, dass er beobachtet wurde. Es sollte nicht lange dauern, bis die Farmer begriffen, wie sich die Diebstähle abgespielt hatten.
Sam und Joe waren mit Beobachten dran. Kurz vor Einbruch der Dämmerung verließ Mackenzie sein Haus. Bevor er sich auf den Weg in die Kneipe machte, ging er zu seinem Schäferhund und dieser begleitete ihn ein Stück. Mackenzie tätschelte das Tier und sprach mit ihm; der Hund wedelte freudig mit dem Schwanz. Die beiden mit Sicherheitsabstand hinter Herr und Hund herlaufenden Männer konnten nicht verstehen, was er zu dem Tier sagte. Die Wege von Herr und Hund trennten sich.
"Du folgst Mackenzie und ich dem Hund", flüsterte Sam.
Inzwischen war es dunkel geworden. Joe nickte und so schlichen die beiden Farmer gut geschützt durch die Dunkelheit.
Mackenzie ging wie üblich in seine Stammkneipe und Sam folgte dem Hund, der zielstrebig zu der Farm eines gemeinsamen Nachbarn von Sam und Joe marschierte. Die Schafe blökten unruhig und Sam traute seinen Augen nicht – obwohl es ja dunkel war, bekam er sehr wohl mit, was sich da abspielte. Der Hund öffnete das Gatter und trieb eine Anzahl Schafe vor sich her – hinauf in die Hochebene zur Mackenzie-Farm. Nun war alles klar: Mackenzie hatte seinen Hund so abgerichtet, dass er die Schafe der Farmer der Tiefebene stahl, während Mackenzie in der Kneipe saß und sein Bier trank.
Mackenzie begriff sofort, als die Farmer der Tiefebene mit der Polizei bei ihm auftauchten und er gab alles zu. Er wurde festgenommen. Ihm wurde der Prozess gemacht und er wurde nach Australien deportiert. Was mit dem Hund geschah, ist nicht bekannt.
Alle Bücher von Ulla Schmid auf ihrer Autorenseite
© "Die Schaffarmer vom Tussock-Land im Mackenzie-Plateau": Nacherzählung einer wahren Begebenheit von Autorin Ulla Schmid; Bildnachweis: Zeitungsausschnitt aus der "Lyttelton Times", Neuseeland, vom Mai 1855.
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