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Lang ist es her, als interessant gewandete Damen und schneidige Herren die Fernsehzuschauer an ihrem unterhaltsamen Leben teilhaben ließen. Viele Leute mochten diese Heftchenromane der laufenden Bilder und versäumten, wenn möglich, keine Folge von Dallas oder dem Denver-Clan in den siebziger oder achtziger Jahren. Bis auf einige wenige Ausnahmen waren sich die Konsumenten dieser Fastfood-Mahlzeiten für das Gemüt durchaus darüber bewusst, dass es sich um Geschichten handelte und nicht etwa um die Realität. Zwar verschmolzen Hauptdarsteller und Rolle ein wenig im Auge der Betrachter, aber nach der 30. Folge ist das verzeihlich.
Heute nun haben wir die in den Augen der Fernsehmacher logische Fortführung dieser "Echtzeit-Seifenopern", nämlich die Reality-Shows. Was der von den vielen inszenierten Herz-Schmerz-Arien gelangweilte Zuschauer davon erwartet, ist klar, denn es geht ja um die Realität. Also echte Probleme, echte Menschen und natürlich echtes Milieu. Realität ist angesagt und macht Quote – deshalb liest sich das Programm vieler Sender wie eine einzige, von einigen kleinen Nachrichtensendungen und dafür viel Werbung unterbrochene Live-Aufführung. Da haben wir zum Beispiel die tränenträchtigen Shows – solche, in denen Familienmitglieder zusammengeführt werden oder einsame Landwirte endlich auch einmal die Liebe erfahren wollen. Zum einen also etwas für das im Alltagsstress unausgelastete Herz, und zum anderen etwas zum Schmunzeln bis hämisch Lachen, das so manchem den Feierabend versüßt.
Die Kamera ist immer direkt dabei, bei der Suche nach der verlorenen Mutter irgendwo in Südamerika oder bei dem leicht schwankend balancierten Frühstückstablett, das ein verlegener Bauer der Liebsten ans Bett bringt. Man hat immer einen Logenplatz, ist immer hautnah dran. Aber das reicht nicht wirklich, der Zuschauer möchte das tobende Leben sehen – oder glaubt zumindest, dass er das sehen will. Dafür gibt es dann eine Art Peep-Show, die praktisch kostenlos und täglich abläuft. Man hat direkten Einblick in die Wohnungen von Hartz-IV-Empfängern oder anderen sozial Schwachen. Da geht es natürlich genau so zu, wie man sich das immer vorgestellt hat: Fast alle sind übergewichtig oder tätowiert (im Idealfall auch beides), alle sehen ungepflegt aus und haben gefärbte Haare plus Piercings, sind fürchterlich faul und natürlich nicht besonders helle.
Außerdem tragen die Figuren meist fürchterliche Klamotten, in denen sie aussehen wie Cindy aus Marzahn oder Atze Schröder. Sehr ordentlich sieht es auch nicht aus – ist ja klar bei denen. Und sobald man eingeschaltet hat, stürzt ein Klischee nach dem anderen geradezu aus dem Fernseher und auf den gepflegten Teppich. Denn die Leute da, die in dem schlimmen Viertel wohnen und Stütze beziehen, die unterhalten sich nur brüllend miteinander. Jeder beleidigt permanent jeden und man schmeißt sich in regelmäßigem Turnus gegenseitig aus der Sozialwohnung, deckt zwischendurch Lügen und Seitensprünge der Partner auf und wird von den Kindern bedroht. Das Fernsehteam ist immer dabei – macht sogar vor dem Badezimmer nicht halt. Der Zuschauer mutiert zum Voyeur.
In weiteren Sendungen werden die hoffnungsvollen Sprösslinge von tapferen Sozialarbeitern zur Rede gestellt, auf dem Schulhof werden die allerinteressantesten Missstände aufgedeckt und natürlich beseitigt. Immer wieder gibt es Einblendungen, in denen Einzelpersonen ein Statement abgeben, gewissermaßen einen Kontext liefern – das nämlich lässt das Ganze so dokumentarisch aussehen. Wenn sich dann noch irgendjemand verbittet, dass gefilmt wird – was öfter vorkommt – dann ist der Zuschauer vollends davon überzeugt, dass es nichts als die reine Wahrheit ist. Dass die Cindy- und Atze-Klone allesamt "Schauspieler" sind und diese kleinen Filmchen nach Drehbuch ablaufen, weiß er nicht. Er weiß auch nicht, dass er langsam aber sicher auf gewisse Klischees geradezu trainiert wird, weil sich seine Wahrnehmung verschiebt. Kopf auf – Vorurteil zementieren – Kopf zu.
Wer aufmerksam zusieht – sich das also im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte antut – bemerkt, dass meist die gleichen Häuserfassaden erscheinen und der Rechtsanwalt der heutigen Folge ein Polizist aus der vorvorletzten ausgestrahlten Intelligenzbeleidigung war. Aber da die Rechnung der Programm-Macher da schon längst aufgegangen ist, bekommt das kaum jemand mit. Man will einfach sehen, wie die da – die anderen – so leben ... dann fühlt man sich besser. Und wie man weiß, werden solche sozialen Ausfälle ja auch bestraft, denn für das noch latent vorhandene Gerechtigkeitsgefühl des mündigen TV-Begeisterten gibt es dann ja noch die Gerichtssendungen. Da kriegen die Bösen eins auf die Mütze und allein deshalb sieht man das gerne.
Man könnte in Abwandlung eines Spruches von Johann Wolfgang von Goethe sagen: "Zappt nur hinein ins volle Menschenleben, und wo ihr's trefft, da ist es interessant." Aber der gute Geheimrat hatte etwas völlig Anderes gemeint ... er bezog sich auf das WIRKLICHE Leben.
© "TV-Serien: Das pralle Leben im TV. Voll im Leben – und voll daneben": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2011. Bildnachweis: Retro TV Gerät, CC0 (Public Domain Lizenz).
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