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Hier und da liest man von den Religionsflüchtlingen, die sich von den großen Amtskirchen abwenden und ihre eigene Lehre zusammenbasteln. Ein wenig Naturverbundenheit, ein wenig positives Denken, eine Prise Schamanismus für den Hausgebrauch, einige Anleihen bei archaischen Richtungen vielleicht – und fertig ist die individuelle Glaubensrichtung ... so oder ähnlich klingen die Stimmen dazu. Im Großen und Ganzen wird nicht viel davon gehalten, bemängelt wird die Bequemlichkeit und die absolute Leidensfreiheit eines solchen spirituellen Konzeptes, das feierabendtauglich ist und nicht die vollste Aufmerksamkeit fordert.
Was damit unter anderem ausgedrückt werden soll, ist wohl die berechtigte Annahme, dass aus diesem Stoff keine Märtyrer gemacht werden können – aber wer braucht die eigentlich? Wieso muss Glaube – also auch eine Religion – so richtig wehtun, damit es anerkannt wird? Und wieso, fragt man sich vielleicht, muss immer irgendein Zwang damit verbunden sein?
Das Gebot, sich mit anderen Gläubigen in einem großen Raum zu treffen, dies zu festgelegten Zeiten, ob man möchte oder nicht, trägt wahrscheinlich nicht zu friedlicher Gesinnung bei. Die Verteufelung des sexuellen Aspektes unserer Existenz kann eher Unzufriedenheit hervorrufen, drückt man es vorsichtig aus. Das Bewusstsein von Verantwortung für andere, die Fähigkeit andere Menschen anzunehmen und mit ihnen auf freundliche Weise zu interagieren, wird nicht verstärkt durch Gebote. Es ist anzunehmen, dass das Gegenteil der Fall ist. Die Verpflichtung, den Kirchenzehnt zu leisten, ist für viele nichts weiter als eine Befreiung von jedweder mitmenschlicher Verantwortung. Schließlich zahlt man ja Kirchensteuer und die Kirche tut gutes, speist die Hungrigen und kleidet die Frierenden. Nun gut, zurück zur Realität.
Die großen Religionen tun sich nicht gerade dadurch hervor, dass sie das Individuum als wichtig erachten – das gilt für den Islam ebenso wie für das Christen- und Judentum. Selbstaufgabe ist das Ziel auch vieler östlicher Glaubensinhalte – ebenso die Kasteiung. Sieht man, was die Religion Menschen antun kann, ob das nun ein indischer Asket ist, der sich von seiner Familie löst und von nun an regungslos in irgendeiner sonderbaren Stellung verharrt, oder jemand, der sich den Rücken blutig schlägt für irgendeine Gottheit – dann fragt man sich, wie irgendwer jemals den Satz: "Gott ist die Liebe" aufbringen konnte.
Kleidervorschriften, Nahrungsgebote, Reglementierung des sexuellen Lebens, und Gebote, die vor allem das Erlöschen jeder Freude zum Ziel haben – was soll das mit einem erfüllten spirituellen Leben zu tun haben? Zwar maßen sich viele Religionen an, Hüter des Lebens zu sein und es zu schützen, aber das Leben ist hier – und unsere Aufgabe besteht darin, es anzunehmen. Ein Freibrief für unmenschliches oder unsoziales Verhalten ist diese Ansicht keineswegs – aber Zwang und nicht nachvollziehbare Glaubenssätze werden niemandem dabei helfen, sich als Mensch unter Menschen zu bewegen und füreinander einzustehen. Liebe ist grundsätzlich freiwillig und kann nicht verordnet werden – ebenso wenig wie menschliches Verhalten (hier wird das Wort menschlich im ethischen Sinne gebraucht). Es geht ein Lernprozess voraus, und bei dem sind starre Dogmen nicht sehr hilfreich.
Was ist nun gegen Leute einzuwenden, die für sich einen Weg suchen und zufrieden dabei sind? Jemand, der weiß, wo er Trost findet oder Hilfe, sei es bei dem Klang einer schamanischen Trommel oder bei einem Naturerlebnis, der hat für sich ein spirituelles Zuhause gefunden. Das ist nämlich das, was wir suchen – einen Raum für die Seele, der sich nach "Zuhause" anfühlt und nicht nach Schulstunde mit Nachsitzen und Strafarbeit. Glaube DARF nicht wehtun. Ist das nämlich der Fall, hat man den Weg verfehlt. Glaube darf auch keine Angst machen, wenngleich ständig Furcht und Liebe gleichberechtigt genannt werden – zumindest in den Sätzen der Kirche. Wo Furcht ist, kann sich Liebe nicht halten – es kann darüber gestritten werden, was vorrangig sein muss. Aber zweifellos kann ständige Furcht vor der Allmacht eines strafenden Gottes nicht die Quelle der Liebe bzw. Nächstenliebe sein. Das ist ein Paradoxon.
Selbstkasteiung beinhaltet eine ungute Arroganz, einen egoistischen Stolz – denn niemand wird dagegenhalten können, wenn behauptet wird, dass solche Energie anderswo besser investiert wäre. Zum Beispiel in tätiger Hilfe für andere Menschen vielleicht. Lösen wir uns vielleicht versuchsweise einmal von der Vorstellung, dass Glaube etwas ist, das nur in einer machtvollen Strömung von Tausenden möglich ist. Vielleicht ist es an der Zeit, die Zuwendung zum Spirituellen als eine persönliche Sache zu sehen und zu respektieren. Wäre dieser Gedanke Teil unseres Denkens, hätte es wahrscheinlich niemals Glaubenskriege und Verfolgungen gegeben.
© "Patchworkglaube – Religion im Selbstbausatz": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Die Abbildung zeigt ein Detail aus dem Mosaik "Wissenschaft und Religion in Harmonie" des Glaskünstlers Louis Comfort Tiffany (1890), Lizenz: gemeinfrei.
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