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Auf einmal waren sie da, die Russlanddeutschen, die Aussiedler. Sie kamen aus Sibirien, meist aus Kasachstan, ein Land, von dem man nicht viel wusste – außer vielleicht, dass dort extreme Temperaturen herrschen können. Kasachstan, das war der Ort, an den Stalin die Wolgadeutschen verbannt hatte, um sie völlig zu isolieren. Die Deutschen, die Faschisten. Sie waren also auf einmal da, und die Bürger, die sich nicht allzu sehr für Politik interessiert hatten, waren plötzlich mit sonderbaren Dingen konfrontiert.
Da hießen die neuen Kollegen oder Nachbarn zwar Schmidt oder Becker, sprachen aber mit unüberhörbarem östlichen Akzent. Sie waren höflich, diese neuen Deutschen, die allerdings vom Gros der Menschen als Ausländer wahrgenommen wurden. Das waren sie zwar, nimmt man dieses Wort als Bezeichnung für jemanden, der aus dem Ausland kommt, und sie waren es wieder nicht. Denn ihre Vorfahren waren Deutsche, was auch die Namen und das etwas altmodische Deutsch erklärten, das sie sprachen.
Die Wolgadeutschen waren lange Zeit eine eigene Gemeinschaft, weil sie meist zusammen in das riesige Land an der Wolga gezogen waren und man sich nicht gerade auf der Pelle hängt in den Weiten Russlands. Sie zogen dorthin, weil Katharina die Große sie im Jahr 1763 gerufen hatte. Das prachtvoll fruchtbare Land an der Wolga lag brach, und niemand bestellte es. Und "Katjuscha", wie sie heute noch zärtlich von ihren Bewunderern genannt wird, holte ihre Landsleute. Die durften das Land bebauen und hatten einige Privilegien, so wie die Befreiung vom Militärdienst und eher milde Steuern. Sie sollten das Land, das man ihnen gegeben hatte, ertragreich machen. Und das taten sie auch. Dabei hielten sie an ihren mitgebrachten Traditionen aus ihrer Heimat fest, sprachen ihre Sprache und blieben im Allgemeinen unter sich. So erhielt sich die deutsche Sprache in ihren Gemeinschaften, ebenso wie andere Traditionen.
Das lag am Anfang in der Natur der Dinge, später dann wurde das bei Strafe verordnet – als man die Wolgadeutschen zusammentrieb und umsiedelte. Es gab Wolgadeutsche in Russland, die starben, ohne jemals ein Wort Russisch gesprochen zu haben. Schwer hatten sie es sowieso nach der Umsiedlung, sie waren Menschen zweiter Klasse. Die ihnen oft zu eigene Religiosität half ihnen nicht bei der Integration, aber sie überlebten auch in den Gegenden, die man ihnen zugewiesen hatte.
Da waren sie nun, und langsam lernte man sie besser kennen – Frauen mit Namen wie Lilli oder Elisabeth, die deutsche Volkslieder kannten und sich gut in dieser Sprache unterhalten konnten. Diese Aussiedler der ersten Stunde waren in ihrer Art sehr "deutsch", eigentlich war nur dieses rollende "R" ein Hinweis auf ihre Herkunft. Wer keine Berührungsängste hatte, erfuhr sehr viel – sie erzählten ihre Familiengeschichten und beschrieben das Leben in Russland. Staunend erfuhr man, dass die deutschen Gemeinden sich oft über die ganzen Jahre erhalten hatten, von Generation zu Generation. Sie dachten durchaus in der Tradition ihrer eigentlichen Herkunft, sie fügten sich tatsächlich nahtlos ein. Oder hätten es getan, wäre es nicht so schwierig gewesen.
"In Russland, da spuckten sie vor uns aus und nannten uns Faschisten, was ein ganz besonders böses Schimpfwort ist dort. Aber als wir dann hierher kamen in die alte Heimat, schauen Sie – da wurden wir Russen und Kommunisten genannt. Aber wir sind doch Deutsche, sind Kinder dieses Landes." Viele von den Älteren sprachen nicht besonders gut russisch, die Großeltern hatten es noch schlechter gekonnt. Die neue Generation war zweisprachig, aber hier in Deutschland würde das wieder verschwinden. Die neuen Enkelkinder lernten die russische Sprache nicht mehr sehr gut, und wenn sie einmal so weit sein würden, um Familien zu gründen, dann wäre davon nichts mehr zu hören.
Das war es, das man öfter hörte von den neuen Deutschen – wenngleich auch ein klein wenig Wehmut mitschwang. Eine sagte einmal zu den Kolleginnen: "Es ist gut, wenn es so kommt, aber wisst ihr, das Herz ist oft dort, wo man die Kindheit verbracht hat. Ob das nun ein gutes Land war oder nicht – dort ist der größte Teil deines Lebens."
© "Gedanken zum Tag der Russlanddeutschen": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Die Abbildung zeigt Kaiserin Katharina II., die Große (Gemälde um 1780), Lizenz: gemeinfrei.
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