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Eine Kunstrezension von Anja Junghans-Demtröder
William Turner war ein unermüdlicher und professioneller Reisender – in einer Zeit, in der sich der Tourismus noch in einer Pionierphase befand. Für seine Motivjagd besann er sich immer wieder auf neue Reiseziele, woraus sich ein bemerkenswerter Fundus an weltlichen Erfahrungen und Erlebnissen entwickelte.
Als fortschrittlicher Tourist nutzte Turner alle erdenklichen Fortbewegungsmittel, die ihm seine Zeit bot. Er reiste mit dem Dampfschiff, bestieg die Kutsche, legte gewisse Strecken zu Fuß zurück und war schließlich auch mit der Eisenbahn unterwegs. William Turner fühlte sich der Landschaftsmalerei in einer Form verpflichtet, für die es unerlässlich war, genaue Studien vor Ort zu betreiben, weil seine Einfälle sich in der Regel aus dem Gesehenen zu einer Bildidee formierten. Die gängige Form der Landschaftsmalerei bezog sich zur Zeit William Turners keinesfalls auf ein Naturstudium. Folglich konnten seine exakten Abbildungen, die nicht an die traditionsbedingte Malerei gebunden waren, an den altbewährten Kunststil nicht heranreichen. Die daraus resultierende Ablehnung und vernichtende Kritik ließ Turners faszinierende Beobachtungsgabe ungetrübt.
Konsequent entwickelte er seine Bildgestaltung mit seiner ungewöhnlichen Sehweise weiter und ermöglichte dem Betrachter einen völlig neuen Zugang zur Natur. Die Anschaulichkeit seiner Naturschauspiele wird nicht zuletzt durch seine große Überzeugungskraft bestimmt. Auf seinen Reisen fertigte William Turner eine unglaubliche Anzahl an Bleistiftskizzen, die er in seinem Skizzenbuch festhielt, welches er auf seinen Reisen mit sich führte. Diese Skizzen fertigte er mit einer verblüffenden Schnelligkeit, wobei ihm sogar noch im Vorbeifahren detailsichere Entwürfe gelangen. Die große Bandbreite an Bleistiftskizzen beweisen Turners zeichnerische Vielfältigkeit. Er malte nicht direkt vor seinem Motiv – insofern waren seine Skizzierungen Vorbereitungsarbeiten, die als Grundlage für die spätere intensive Ausarbeitung im Atelier bestimmt waren.
Fußwanderungen waren für William Turner nicht nur ein beliebter Zeitvertreib, sondern auch ein wichtiger Bestandteil seiner Arbeit. Bei seinen Streifzügen durch England erwies er sich als äußerst ausdauernder Wanderer, wobei er täglich große Strecken zurücklegte und sein Gepäck auf das nötigste beschränkte. Die Unterbringung und Verpflegung in englischen Gasthäusern war alles andere als komfortabel, aber damit haderte der nimmermüde Reisende nicht, sondern nahm bescheiden damit vorlieb. Turners einziges Verlangen richtete sich auf die Vervollkommnung seiner Kunst, die er auf seinen Reisen ständig durch neue Eindrücke zu erneuern versuchte. Mit Hilfe von Reiseführern, die aktuelle Informationen und Empfehlungen enthielten, arbeitete Turner seine Reisetouren aus. Es herrschte aber auch ein reger Informationsaustausch zwischen den Künstlern, von dem auch William Turner profitierte.
Als guter Geschäftsmann wollte er mit seinen Motiven auch dem allgemeinen Interesse entsprechen und bereiste deutsche Gebiete, um Sehenswürdigkeiten wie zum Beispiel Ruinen aufzusuchen, die in der Beliebtheitsskala bei den Touristen weit oben rangierten. Anfänglich malte Turner seine Darstellungen sehr landschaftsbezogen, ohne dass die Vergänglichkeit der historischen Bauwerke spürbar wurde. In einer späteren Periode seines Schaffens näherte er sich jedoch einer anderen Prozessform an, die den natürlichen Zerfall von Ruinen durch das unbeständige Klima veranschaulicht.
Im Jahre 1819 unternahm Turner eine Reise nach Italien, um die dortigen Lichtverhältnisse der Naturkräfte zu studieren. Die wärmenden strahlenden Lichtreflexe, die sich augenscheinlich auf dem azurblauen Meer spiegelten, bildeten den Höhepunkt seiner Fortentwicklung. Immer schon hatte er nach diesem Licht gesucht und es in den verregneten stürmischen Wetterverhältnissen Englands nie zu entdecken vermocht. Das leicht graue Licht, das durch den wolkigen Himmel hindurchschimmerte, kam einem gegenteiligen Anblick gleich, der sich weit von diesem Glanz entfernte. Vom Schauspiel überwältigt, versuchte Turner sich in der Gestaltung und Wirkung der Lichtverhältnisse zu erweitern und behielt dieses prächtige Licht- und Farbenspiel zeit seines Lebens in der Erinnerung. Diese Erinnerungen sind ein wichtiges Merkmal, denn die Grandiosität, die von Turners Werken ausgeht, ist auf ein ausgeprägtes optisches Erinnerungsvermögen zurückzuführen. Eine Fähigkeit, die es ihm ermöglichte, relevante Informationen aus dem Gedächtnis – bezugnehmend auf seine Entwürfe – abzurufen und entsprechend zu verarbeiten.
Venedig war schon zur Zeit William Turners eine Stadt, die ein großes Aufgebot an Touristen anlockte. Die Altstadt, die zugleich das historische Zentrum bildete, war ein Ausdruck von Schönheit und Romantik, dessen reizvollen Anblick Turner erlag. Venezianische Paläste und Kirchen spiegelten sich in den breiten Kanälen, die sich zwischen den einzelnen Inseln hindurchzogen. Turners Ideenreichtum schien hier den perfekten Nährboden zu finden, was sich bei jedem seiner Besuche in einer umfangreichen Produktion an Zeichnungen für seine späteren Gemälde äußerte. Man sagt, Turners malerisches Werk gleicht einem Reiseführer – doch nicht nur eindrucksvolle Erlebnisse prägten seine Reisen.
Mitunter erwies sich William Turner als lustiger und heiterer Reisegefährte wider Willen, wie ein englischer Weggefährte zu berichten wusste, der Turner während einer Kutschfahrt durch Italien begleitete. Während der gesamten Fahrt war dieser kleine Herr leidenschaftlich am skizzieren und nahm von den anderen Fahrgästen zu gut wie keine Notiz. Diese wiederum fanden sein Verhalten sehr unterhaltsam und überlegten angeregt, was er – nach seinem Benehmen zu Folge – wohl sein könnte. Nach seinen Flüchen zu urteilen, die er gegen den Kutscher ausstieß, weil dieser die Fahrt nicht verlangsamen wollte, musste er wohl ein Künstler sein, wenn nicht sogar ein sehr professioneller. Vielleicht war er ihnen sogar bekannt ... der Name auf seinem Gepäck lautete: J. M.W. Turner.
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© "William Turner – Ein Naturvisionär geht auf Reisen": Kunstrezension von Anja Junghans-Demtröder. Die Abbildungen zeigen folgende Gemälde von William Turner: Ivy Bridge (1813), Brougham Castle (1809), sowie Venedig – Canal Grande (1835), Quellen: Wikipedia, Lizenzen: gemeinfrei.
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