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Wer es liebt, zu lesen, ist mit Sicherheit einigen Büchern begegnet, die eher Tore sind als ein Stapel bedrucktes Papier. Man schlägt so ein Buch auf, oder – um beim Bild zu bleiben – drückt die Klinke herunter und steht mitten in einer faszinierenden Welt. Wer Erfahrung hat und sich gerade zwischen zwei Terminen befindet und nur eben einmal in ein Buch hineinsehen wollte, legt es sofort wieder hin. Denn er weiß, dass es ihn nicht loslassen würde und verlegt den Eintritt auf einen Zeitpunkt, der ein langes Verweilen gestattet.
Dorothy Hearsts "Das Versprechen der Wölfe" ist so ein Buch – es fesselt vom ersten Wort bis zum letzten und ermöglicht einen sehr intensiven Blick auf die Wölfe.
Dorothy Hearst hat das Leben dieser Tiere studiert, sie weiß, wovon sie schreibt – und wenn sie vor unserem inneren Auge ein packendes Drama mit Wölfen und Menschen als Darsteller entstehen lässt, ist der Reiz des Tatsächlichen unwiderstehlich. Wie wir mittlerweile wissen, sind diese Tiere überaus intelligent und ihr soziales Gefüge sehr vielschichtig. Nicht umsonst sind wir fasziniert von diesen Wesen, die im Übrigen langsam aber sicher und – vor allem – verdient den eher schlechten Ruf verlieren.
In der Geschichte um eine Wölfin, die vom Geschick dazu bestimmt ist, das sehr fragile Gleichgewicht zwischen Menschen und Wölfen zu halten, werden die Rudelmitglieder als eigenständige Charaktere dargestellt – was in der Realität auch durchaus so ist. Es gibt viele hochinteressante Bücher von Wolfsforschern, die immer wieder eine erstaunlich "menschenähnliche" Gesellschaft zeigen. In jedem Rudel gibt es den Spaßmacher, den Zurückhaltenden, den Draufgänger und den Sanften – aber Hearst füllt diese Vorgabe mit faszinierendem Leben. Die mystischen und märchenhaften Elemente der Geschichte machen nichts unglaubwürdig – eher im Gegenteil. Wer – auf Bildern oder in Natura- schon einem Wolf in die klugen und wunderschönen Augen geblickt hat, kennt die ungeheure Anziehungskraft, die von ihm ausgeht. In Hearsts Version geht es den Wölfen ebenso – sie sehnen sich nach dem Kontakt zu den Menschen, suchen ihn und leiden darunter.
Wächterwölfe wachen darüber, dass Mensch und Wolf getrennt bleiben, denn leben beide Arten miteinander, kommt es unweigerlich zum Krieg zwischen ihnen. Und das nicht, weil sie zu verschieden wären, sondern ihrer Ähnlichkeit wegen. Das Buch erzählt die Geschichte eines Wolfsrudels, das vor etwa vierzehntausend Jahren lebt, aus der Sicht einer jungen Wölfin, die eigentlich getötet werden sollte. Wölfe töten manchmal Welpen, aber immer gibt es dafür gute Gründe – überlebenstechnisch gesehen. Die kleine Wölfin trägt in ihrem Fell ein helles Abzeichen, das Symbol des Mondes. Die Legende besagt, dass ein Wolf, der dieses Mal trägt, entweder großes Glück oder großes Unglück über das Rudel bringt, und so wird das Junge misstrauisch beobachtet. Die Mutter wurde vom Rudel ausgestoßen, weil ihr Wurf ein unerlaubter war und der Vater fremd.
Bei den Wölfen paaren sich meist nur die Alphatiere – nur in besonders guten Jahren wird es auch anderen Wölfinnen erlaubt, Welpen zu bekommen. Was "Kaala's" Mutter tat, war also ein Verstoß gegen die Gesetze der Gemeinschaft. Das junge Tier fühlt sich magisch angezogen von den Menschen, die in der Nähe leben, und deshalb läuft es oft Gefahr, ebenso ausgestoßen zu werden wie die Mutter. Menschen und Wölfen ist es nicht mehr erlaubt, miteinander Umgang zu haben. Das ist ein Gesetz, dem man sich zu beugen hat ... aber Kaala kann nicht anders: sie gehorcht nicht und findet ein Menschenmädchen, dem sie sich anschließt. Die dramatische Entwicklung der Geschichte lässt nicht los, sie fesselt bis zum Schluss. Es geht letztendlich um ein uraltes Versprechen, gewissermaßen um einen Vertrag, den jede Seite schon gebrochen hat und ohne den es aber nicht zu gehen scheint. Denn Mensch und Wolf brauchen einander, bilden zusammen ein Ganzes.
Die Liebe zu Hunden ist etwas, das wir verstehen – es fällt uns leicht, sie zu lieben und mit ihnen umzugehen, und es klappt recht gut mit dem Zusammenleben. Das ist allerdings eher der Verdienst der Hunde als unserer. Sie versuchen uns zu verstehen, lernen uns zu verstehen und behandeln uns wie Rudelführer. Bei Wölfen ist das etwas anderes – hier geht es um "Gleich zu Gleich". Mensch und Wolf auf gleicher Höhe – das ist etwas, das wohl nur strikte Gegner oder begeisterte Anhänger finden wird. Dazwischen gibt es nichts. Wie immer man dazu stehen mag – Dorothy Hearsts Buch zeigt eine völlig andere Sichtweise auf – und wenn auch das Phantastische, die Fantasy überwiegt, das fundierte Wissen und das tiefe Gefühl für die Wölfe und ihre Art machen dieses Buch zu etwas ganz Besonderem.
Klappt dann der Buchdeckel zu, weil man auf der letzten Seite angelangt ist, glaubt man, die Spuren von Kaala und dem Rudel bis zum Horizont verlaufen zu sehen ... in eine Welt, in der Wölfe und Menschen noch Brüder waren.
© Text zum Buchtipp "Das Versprechen der Wölfe" von Dorothy Hearst: Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Bildnachweis: Zeichnung eines Wolfes, CC0 (Public Domain Lizenz).
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