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Endlich war es still im Haus, endlich konnte Sarah die Finger aus den Ohren nehmen und ihren verkrampften Körper ausstrecken. Solange Gefahr bestand, lag sie zusammengerollt wie ein übergroßer Fötus in ihrem schmalen Bett. Es war nicht sicher, die Gehörgänge zu verschließen – aber auch auf die Gefahr hin, überrascht zu werden, musste sie den Krach dämpfen, so gut sie nur konnte.
Es war gut, das Gebrüll nur gedämpft und irgendwie weich zu hören, so als gäbe es irgendetwas zwischen ihr und dem, was unten war. Etwas, das sie vielleicht schützte, obwohl das Kind wusste, dass nichts und niemand es davor bewahren konnte, was immer wieder geschah. Es war kalt in dem winzigen Zimmer, kalt und klamm. "Du hast die verdammte Stromrechnung nicht bezahlt, du nichtsnutzige Schlampe!" Dann Poltern und dumpfe Geräusche, so als ob etwas gegen die Wände ploppte, das weicher war als das Mauerwerk. Schreien, Brüllen. "Wovon denn, du hirnverbrannter Säufer du!" Splittern, Krachen, Kreischen.
Früher war ihr Bruder bei ihr gewesen, hatte mit in dem durchgelegenen Bett gelegen und sich an Sarah geklammert. Dann, wenn es besonders laut wurde, pinkelte er sich ein. Er war oft erkältet, und er traute sich ebenso wenig wie Sarah nach unten, um aufs Klo zu gehen. Es war nicht sicher. Manchmal kamen die harten Schritte die steile Stiege herauf, mitten in der Nacht. Dann wurde mit einem Ruck die Decke weggezogen und die Hölle brach herein.
Als ihr Bruder noch da war, griffen große Fäuste nach ihnen und rissen sie aus dem Bett. "Verdammte Schweinerei!" hatte er dann gebrüllt, und dann das Klatschen von Händen auf Haut im Dunkel. Wo es gerade traf. Irgendwann war ihr Bruder weg, nach einer besonders schlimmen Nacht war er verschwunden. Sarah war eingeschlafen – irgendwann, nachdem ihr Kopf nicht mehr wehtat. Sie konnte sich nicht mehr genau erinnern. Die Polizei war dagewesen, die Leute vom Jugendamt auch. Er war einfach verschwunden.
Man fragte Sarah nach ihm, wollte wissen, wie es ihr ging. Aber die Leute, die fragten, wollten das nicht wirklich wissen. Und Sarah hatte die Augen von ihm und von ihr auf sich gefühlt. Sie hatte nichts gesagt, außer dem, was sie ihr eingetrichtert hatten. Dass er morgens in die Schule gegangen sei und nicht mehr heimgekommen. Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Und seit der Zeit wurde die Decke weggerissen, aber keine Faust kam mehr, sondern die Stimme: "Wie sieht es hier aus, du faule Kröte! Du bist wie deine Alte, aber das werd ich dir austreiben!" Dann putzte sie nachts mit kaltem Wasser die winzige Stube oder räumte, mit einem Lineal bewaffnet, die herausgerissenen Kleider wieder in den Schrank. Das Lineal brauchte sie zum Messen, denn wenn es nicht akkurat genug war, konnte es wieder von vorn anfangen.
Er hatte ihr eines Nachts die Haare abgeschnitten, mit seinem Taschenmesser. In der Schule sagte Sarah, sie wäre es gewesen. Und noch Wochen lachten alle über ihre Stoppeln. Die Lehrerin hatte nur den Kopf geschüttelt. Es hatte sehr wehgetan, weil das Messer nicht scharf genug war, und er hatte gesagt, wenn sie auch nur einen Laut von sich geben würde, wäre ihr Hals dran. Tagsüber geschah nie etwas, die beiden saßen vor dem Fernseher und tranken, meist gab es Brot und irgendwas zum Draufschmieren. Sarah aß nicht gerne und war jämmerlich dünn, aber das fiel keinem auf, weil sie auch ziemlich klein war.
Jetzt, da es still war – endlich – öffnete das Kind die Augen und sah durch das kleine Fenster hinaus auf den Hof, wo der Elfenbaum stand. Es war ein Geheimnis, niemand wusste davon. Aber der alte Baum schimmerte im Mondlicht, als wäre er silbern, so wie in einem Märchen. Sarah wurde ruhig, wenn sie das sah und schlief dann doch noch ein – aber nachdem ihr Bruder verschwunden war, hatte sie bemerkt, dass der Baum auch dann schimmerte, wenn gar kein Mond am Himmel zu sehen war. Es war ein ganz zartes, lebendiges Glühen – es sah aus wie etwas Freundliches und Warmes. Sie fror erbärmlich, denn die Bettdecke war ziemlich dünn und außerdem ständig klamm, weil es kalt war hier oben im Zimmer. Wenn sie den Baum ansah, wärmte das ein wenig. Es war so, als werfe das Leuchten etwas Wärme durch das Fenster. Es war irgendwie ... sicher.
In Sarahs Welt gab es nur diese beiden wichtigen Dinge: sicher und nicht sicher. Es war nicht sicher in der Schule, aber auf dem langen, einsamen Heimweg schon. Mit der Lehrerin reden war sicher, aber mit den anderen Kindern war es das nicht. Wenn Sarah das kleine verwahrloste Haus betrat, ließ sie jedes sichere Gefühl draußen. Es gab nichts Sicheres außer dem Elfenbaum.
Sie war fast eingeschlafen, als die plötzliche Kälte sie zu sich brachte. Er stand über ihr, die Decke in der Hand und beschimpfte sie. Sie roch den widerlichen Gestank von dem Zeug, das er immer trank, zitterte und weinte. So etwas konnte auch passieren – der Krach war vorüber, aber dann hatte er noch nicht genug. Dann kam er noch einmal in die kleine Dachkammer, weil er nicht müde genug war. Und dann brüllte er los: "Hast die Klotür offengelassen, du kleine Ratte! Weißt du, wie das zieht? Dir zeig ich, wie es ist, wenn man friert!" Dann ging er raus und nahm die Decke mit. Sarah versuchte sich auf der blanken Matratze zusammenzurollen, aber das konnte die Kälte nicht abhalten.
Leise wimmerte das Kind und rieb sich verzweifelt die Arme und Beine, als sie bemerkte, dass es heller wurde. Es konnte noch nicht lange nach Mitternacht sein, aber es war fast wie am Tag – und da sah sie es. Der Elfenbaum draußen glühte in einem sanften, silbrigen Feuer. Wie ein Weihnachtsbaum sah er aus, nur dass die Lichter innen waren und nicht außen. Sarah erhob sich von der Matratze und ging zum Fenster, starrte auf das Wunder draußen im Hof und wusste, dass jetzt endlich die Zeit gekommen war.
Mit angehaltenem Atem öffnete sie das Fenster und stieg vorsichtig auf das Dach hinaus. Sie hatte sich das schon so oft vorgestellt, wie einfach das werden würde – und so war es auch. Sachte setzte sie Fuß vor Fuß, bis sie den Rand erreichte, von dem aus sie auf das Dach des alten verrottenden Wohnwagens gelangte, der schon im Hof stand, seit sie denken konnte. Von dessen Dach aus hangelte sie sich auf die Erde hinunter und lief zum Stamm des Elfenbaums. Die Wärme, die von ihm ausging, war so wundervoll, dass sie ihre Arme ausbreitete und sich ganz fest daran lehnte. Alles war hell, war sanft und weich ... war sicher.
"Was für eine Kälte, und das Ende Februar", sagte die Polizistin. Der Polizeiarzt nickte. "Eine tragische Sache ist das. Das Mädchen muss schlafgewandelt sein, anders kann ich mir das nicht vorstellen. Hat sich an den Baum gelehnt und ist dann wohl im Schlaf erfroren. Trug nur ein Hemd und eine Unterhose." Er schüttelte den Kopf und winkte die Männer mit der Trage heran. "Arme Eltern", murmelte er dann noch.
© "Der Elfenbaum" – eine tragische Geschichte von Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Bildnachweis: Winterlandschaft, CC0 (Public Domain Lizenz).
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