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Ach wissen Sie, das gesellschaftliche Leben findet ja für uns kaum statt. In unserem Alter ist das auch ein wenig schwierig, das kommt noch dazu. Früher gab es ja so etwas nicht, so etwas wie Halloween. Da waren zwar diese Fastnachtszeiten, aber leider flaut das doch ziemlich ab und findet mehr in großen Hallen statt. Funkenmariechen und dicke Leute mit so zipfeligen Glitzerhüten sind nicht das, was wir uns so vorstellen, mein Mann und ich. Wie ich schon sagte, wir gehen selten aus. Einige alte Freunde bringen uns hier und da Sachen vorbei, die wir wirklich benötigen, und diese modernen Märkte haben meist einen Bringservice.
So dümpelt die Zeit dahin, und wir sind meist daheim und leben genügsam. Als wir jung waren, gab es diese Wohndichte noch nicht, man konnte sich da viel freier entfalten. Heutzutage muss man sich doch allzu sehr nach den Nachbarn richten, man hat kaum Gelegenheit, das Leben nach eigener Fasson zu führen. Aber heute Abend ist Halloween, und das bedeutet, dass wir uns unter die Leute mischen werden. Sandor – mein Mann stammt aus Ungarn – ist den ganzen Tag schon hervorragend gelaunt. Er liebt diese Nächte – und ich natürlich auch. Allzu viel Zeit verbringen wir nicht zusammen, denn ich bin überhaupt kein Tagtyp. Sandor lebt eigentlich auch erst nach zehn Uhr abends richtig auf, und so treffen wir uns sozusagen in der Mitte. Jedenfalls zu den Jahreszeiten, die wir lieben, mein Mann und ich. Frühjahr und Sommer sind nichts für mich ... zu warm, zu laut, zu hell.
Es ist schon früh dunkel geworden heute und wir haben zusammen die Vorbereitungen getroffen. Im Flur steht ein ganzer Karton voller Naschkram, und einige Male hat es sogar schon geklingelt. Erfahrungsgemäß lieben die Kinder es, wie wir aussehen, wenn wir ausgehfertig sind, aber noch sind wir nicht soweit. Ich gehe zum Bad hinüber und lehne mich an den Türrahmen. Nach den ganzen Jahren sehe ich Sandor immer noch gerne zu, wenn er sich zurechtmacht. Sein Haar ist noch immer wunderschön schwarz und seine Zähne blitzen weiß wie eh und je. Er legt sehr viel Wert auf Maniküre, mein eitler Ehemann – und ich helfe ihm gerne dabei. Wenn er nackt vor dem großen Spiegel steht und sich genau prüft, bin ich fast so verliebt wie als junge Frau.
Weil Sandor viel, viel länger braucht, um ausgehfertig zu sein, habe ich mir den Vortritt genommen und bin fertig. Silbergrauen Lidschatten, ein schönes burgunderrotes Rouge und einen Lippenstift von derselben Farbe – mehr braucht es nicht und ich kann mich sehen lassen. Mittlerweile hat es schon zweimal geläutet, und ich habe meinen Posten verlassen, um die Süßigkeiten zu verteilen. "Wow, ist ja ein tolles Kostüm", haben sie gesagt. Nun ja, diese Robe ist ein Erbstück meiner Familie. Heute bekommt man so etwas nicht mehr. Es sieht sehr stilvoll aus, die weiten schwarzen Ärmel und die kleine Schleppe. Ach, es erinnert mich an alte Zeiten und ich bessere es immer wieder sorgfältig aus. Aus dem Bad höre ich Geräusche, es wird wohl gleich soweit sein.
Sie können sich vielleicht nicht vorstellen, wie sehr ich mich auf die kommenden Stunden freue – völlig unbeschwert ausgehen, ohne dass ich mich stundenlang schminken muss ... und Sandor liebt diese Nacht alleine deswegen, weil er den Rasierapparat liegenlassen kann, die Prozedur dauert ja sonst eine Stunde. Hinter mir geht die Türe auf und im Gegenlicht sehe ich meinen Mann stehen. Er lässt einen kleinen, heiseren Laut hören und lehnt sich lässig gegen die Tür ... der immer noch stattlichste Werwolf der Welt. Jedenfalls für mich. Unbekümmert lache ich vor Freude auf, als wir draußen sind, denn ich muss meine Zähne nicht verstecken in dieser Nacht. Ein junger Mann mit einer Affenmaske aus Gummi ruft mir zu: "Hey Vampirella, trink einen auf mich!" Sandor knurrt mit zusammengepresster Schnauze. Er ist ja so eifersüchtig.
© Text und Foto zu "Freigang", einer Halloween-Geschichte: Winfried Brumma (Pressenet), 2012.
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