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Ich bin ein Schlepper. Ein Säckeschlepper. Erst Säcke füllen, dann herumschleifen. Vollgestopft mit Fakten aus der Geschichte. Mit Brüchen aus der Mathematik. Mit Meeresgräben und Höhenrücken aus der Geografie.
Doch Max und Moritz schlitzen die Säcke auf. Alles, was ich mühsam in sie hinein gefüllt habe, rieselt wieder hinaus. Nur eine Bodendecke von Saatgut bleibt zurück. Für diese wenigen Körner schufte ich.
Meine Arbeit ist vergebens. Aber was soll ich machen? Ich habe nichts anderes gelernt als Säcke zu füllen und sie dann herumzuschleppen. Seit 13.505 Jahren. Jeden einzelnen Tag.
Wie lange dauert es, bis das Mahlwerk den Menschen zermahlen hat? Bis die Last auf dem Rücken den Schlepper erdrückt?
Wie lange dauert es, bis Schuld vergeben wird?
Es war eine Nacht im Oktober. Ich war mit meinen Schülern unterwegs, um uns die Sterne anzusehen. Doch am Himmel schiffte nur der Mond in einem schweflig gelben Wolkensee herum. Von den Sternen war kaum etwas wahrzunehmen.
Der Pferdestall vom Bauer Gutmannsen schob sich vor den Nachthimmel. Der Geruch nach seinen Gäulen grub sich in meine Nasenlöcher, ein wenig streng, ein wenig nach Stroh duftend. Wärme durchflutete mich. Pferde waren meine Freunde.
Ich meinte, eines der Tiere im Stall rumoren zu hören. Schnauben. Gegen die Bretterwand stoßen. Als ob es sich fürchtete.
Mit einem Male waren Ines und Andy neben mir, ganz zufällig. Sie achteten nicht auf mich. Ich hatte den Kopf in den Nacken gelegt, hoffte noch immer, der Himmel würde aufreißen, die Pracht der Himmelkörper frei geben. Dabei hörte ich die beiden miteinander sprechen.
"Wie geht's?", fragte Andy.
"Und selbst?", antwortete Ines.
Andy umfasste sie. Liebevoll. Mein Blick schlang sich um die beiden. Sie waren noch so jung. Erst dreizehn. Oder war ich zu alt, ein wenig eifersüchtig, mochte ihnen das erste Verliebtsein nicht gönnen? Ich mochte kein Spielverderber sein und schwieg.
Ines unbeschwertes Lachen schraubte sich zum Mond hinauf. Sie schlüpfte aus Andys Armen und stob davon. Zum Pferdestall hinüber. Ein alter, ausgedienter Mahlstein lehnte an seiner Wand.
Andy setzte ihr nach. Stand plötzlich zwischen ihr und dem Stein.
"Du kriegst mich nicht!", rief das Mädchen. Es schubste Andy. Im Übermut. Er stolperte. Fiel nach hinten. Sein Kopf schlug gegen den Mahlstein. Den harten, der kein Erbarmen kannte.
Mein Nein flehte den Mond an, den Eiskalten, der mich nicht liebte, mir nicht half. Von einem nun wolkenlosen Himmel zusah. Wie ein Voyeur. Es zuließ, dass Andy da lag, verkrümmt. Bewegungslos. Die erste Liebe nicht erfahren würde. Mit niemanden. Niemals.
Drinnen im Pferdestall wieherte ein Gaul.
Schadenfroh, nicht länger mein Freund.
Es ist ein Nachmittag im April. Eine gleißende Sonne gibt vor, dass schon Sommer sei. Ich stehe am Mahlwerk neben dem Pferdestall. Ein engbrüstiger Bretterbau mit eiserner Außen-Treppe, durch deren Gitter-Stufen ich zu fallen fürchte.
"Was zitterst du vor dem Aufstieg zur hell leuchtenden Sonne?", fragt Johannes der Täufer, mein Begleiter, und schiebt mich nach oben. Dort ein braunwarmer Raum mit starken Balken und Johannes schützenden Armen. Nun denke ich, dass ich wohl erst 2.000 Jahre alt bin nicht schon 13.505.
"Der Mahlstein ist schartig und nutzlos geworden. Er zerbröselt schon lange."
"Und der Stall für die Pferde, neben dem Mahlwerk?"
Der Täufer lacht hell und klar wie die Glocke zum Morgengebet.
"Komm', ich zeig' dir, was aus dem Pferdestall wurde."
Wieder hinunter, zur breiten Tür des Stalles, am brüchig gewordenen Mahlstein vorbei. Das Tor schwingt auf. Offenbart einen halbdunklen Raum gefüllt mit heiteren Farben und lustvollen Bildern auf klapprigen Staffeleien.
"Ein Jahr ist so lang wie ein Tag", sagt Johann, "und das Gestern ist längst doch vergangen. Warum willst du dich noch immer als Müllerknecht um verlorenes Saatgut sorgen, wenn du doch auf Pegasus Rücken die Sonne erreichen könntest?"
"Es wär' schon genug, zum Mond zu gelangen!", bekenne ich.
Von fern wiehert ein Pferd. Kommt auf mich zu. Ist Pegasus und Einhorn zugleich.
"Sieh nur, es weint", sage ich und schlinge meine Arme um den Hals des Tieres, tauche mein Gesicht in seine Tränen. Und der Sack meiner Qualen gleitet von meinen Schultern ins duftend junge Gras neben dem kränkelnden alten Mahlstein. Und bin keine 13.505 Jahre mehr alt, auch keine 2.000. Nur noch 58, nicht mehr. Noch ganz jung also und unverbraucht.
Pegasus scharrt mit den Hufen, und Johann hält mir die Hände zum Steigbügel. Und während ich mich auf den Rücken des Tieres schwinge, sehe ich Max und Moritz mir lachend zuwinken.
© Textbeitrag zur Leseprobe "Im Mahlwerk": Jutta Schöps-Körber. Die Zeichnung des Pegasus stammt von Pearson Scott Foresman, Public domain.
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