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'Ndrangheta – dieser Name steht für alles, was das organisierte Verbrechen zu einer Gefahr für jeden macht, der nicht zur "Familie" gehört. Die Mafia nimmt sich gegen die weitaus stärker verbundenen Clans der 'Ndrangheta wie bloße Bandenkriminalität aus. Im Gegensatz zu der kalabrischen Organisation ist die Mafia weitaus verwässerter durch die Mitwirkung "nichtfamiliärer Mitarbeiter", die an keinen Kodex gebunden sind.
Ein kleiner Ort in Kalabrien namens Plati, an der Südspitze Italiens, soll der Punkt sein, an dem alle Fäden zusammenlaufen. Es heißt, in dem kleinen Nest hat die 'Ndrangheta ihr Hauptquartier. Unter dem Dorf gibt es unzählige Höhlen und Tunnel, die von den Mächtigsten der Organisation als Verstecke oder Fluchtwege genutzt werden. In Plati scheint der Geist der verschworenen Gemeinschaft über allem zu liegen – und die Regeln sind festgefügt wie Granitstein. Sieben Gebote kennt die 'Ndrangheta, sieben unumgängliche Pfeiler für alle, die den Clans angehören. Diese Gebote stehen über denen des Glaubens, selbst im katholischen Süditalien.
Wie groß der Einfluss und die Macht der "Cosche", der Sippen, tatsächlich sind, kann ein Außenstehender nur schwer erfassen. Die Fäden, die durch die gesamte Wirtschaft und Politik nicht nur Italiens, sondern auch in ganz Europa laufen, sind meisterhaft gesponnen und nehmen Einfluss auf alles, was in irgendeiner Weise von Wichtigkeit ist. Die kalabrische Mafia ist in Europa fest etabliert – und nicht nur auf dem Kontinent. Die Erfolgsstrategie der Clans ist eine Mischung aus Gewalt und Diplomatie, aus Erpressung und Bestechung, und immer erfolgreich.
George Tenners 2012 erschienenes Buch "Im Schatten der Roten Mühle" ist ein Thriller, der sich von anderen Büchern dieses Genres abhebt. Was mit einem Mord an Michele Antonioli beginnt, einem Paten der 'Ndrangheta, entwickelt sich zu einem unglaublich präzise recherchierten Bericht über die Aktivitäten der Clans in Politik und Wirtschaft der letzten Jahrzehnte. Manche Schlagzeile, die man längst wieder vergessen hatte, gewinnt eine ganz neue und weitaus größere Dimension.
Der Mord am "Don", der sich auf einer Insel ein Reich aufgebaut hat, das seiner Bedeutung entspricht, läutet einen Plot ein, der sich nach und nach zu einem hochbrisanten verdeckten Krieg gegen die 'Ndrangheta entwickelt. Trivial genug, macht die Unachtsamkeit seines Leibwächters den Anschlag erfolgreich – allerdings war dieser etwas abgelenkt: der Pate hatte ihm befohlen, den Rücken der jungen Geliebten mit Sonnenöl einzureiben. Eher schulterzuckend überträgt der Bodyguard seine Loyalität auf den Nachfolger – und bleibt weiter im Geschäft.
Viele Kilometer entfernt öffnet ein Ermittler einen sonderbaren Brief, in dem es um den Mord an einem Hund geht und wird neugierig. Die Besitzerin des Tieres, die Industrielle Theres Wilding, hatte weder das Verschwinden ihres Tieres noch die Zusendung des abgeschnittenen Kopfes zur Anzeige gebracht. Das tat die Haushälterin – in bester Absicht.
Ein geliebtes Tier, das entführt wird, und ein zugeschickter Körperteil – das gehört durchaus zum Einschüchterungsrepertoire der 'Ndrangheta, denn genau mit dieser hat sich Theres Wilding angelegt. Sie betreibt ein Unternehmen in Kalabrien – und sie ist nicht bereit, auch nur eine Handbreit ihrer Selbstständigkeit als Eigner und die Führung des Betriebes abzugeben. Die Gegenseite allerdings duldet auf "ihrem Boden" nichts, das sich völlig ihrer Kontrolle entzieht – und so kam es zu dem makabren Paket. Unauffällig, fast spielerisch, werden Drohungen geschickt, "nicht ausgesprochen". Frau Wilding hat eine Mutter, die sie liebt – aber bevor man sich mit dieser delikaten Angelegenheit befasst, rückt ihr wertvolles Pferd in den Fokus der "Familie".
Theres Wilding wendet sich an Colonel Beauvais, einen Mann, den man nicht unterschätzen sollte, auch wenn seine Kultiviertheit das vielleicht etwas forciert – und von da an betreten weitere Männer das unsichtbare Schlachtfeld. Ein gewagter Plan, mehrere Spezialisten und eine High-Tech-Ausrüstung sind die Komponenten eines fast unmöglich scheinenden Vorhabens: der Operation Island. Sie wollen einen Kopf der Hydra abschlagen und ausbrennen, aber bis dahin gilt es, sich in einem Netz, in dem mehr als eine tödliche Spinne lauert, so zu bewegen, dass der entscheidende Faden nicht berührt und niemand aufmerksam wird.
Der Autor George Tenner hat einen besonderen Stil entwickelt, der gleichzeitig Spannung und echte Information vermittelt – man könnte dieses Buch fast als Nachschlagewerk über die Aktivitäten der 'Ndrangheta benutzen – wären da nicht die gut entworfenen Figuren. Tenner lässt Situationen so lebendig werden, als säße man im Kino. Die Akteure sind Menschen, die man tatsächlich vor sich sehen kann – sie besitzen Tiefe und Hintergrund.
Die fast lakonische Kälte einiger Beteiligten – und dabei handelt es sich nicht nur um die Leute der Paten – machen fühlbar, dass es eine Welt gibt, in der völlig andere Gesetze gelten. Und dass diese Welt real und durchaus nicht kleiner ist, sondern rasch an Größe und Einfluss gewinnt.
George Tenner malt seine Figuren sehr lebendig, und vor dem realen Hintergrund, den seine sorgsamen Recherchen bieten, wird "Im Schatten der Roten Mühle" zu einem sehr besonderen Thriller, der zeigt, wie nahe uns das wahre Böse eigentlich ist.
Hier geht es zum Autorenprofil bei Amazon und der Internetpräsenz von George Tenner.
© "'Ndrangheta – Das wahre Böse": Rezension zum Thriller "Im Schatten der Roten Mühle" von Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Abbildung des Buchcovers: George Tenner.
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