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Er war kein Vorbild, der alte Seiz. "Er spinnt", sagten die Leute. "Glaubt, er ist allein auf der Welt." Und ich sagte: "Wer weiß das genau, ob er nicht allein auf der Welt ist?" Denn mir hat der Seiz imponiert, weil er konsequent war.
Als ich das letzte Mal von ihm hörte, war er auch konsequent gewesen. Die Kinder erwachsen, der Frau hatte er nichts mehr zu sagen – er nahm seinen Hund, seine Ersparnisse und sein Auto. Man hat nichts mehr von ihm gehört. "Seine Frau ist froh, dass er weg ist, da bin ich sicher", sagte meine Mutter. Dann hat sie mir die Geschichte vom alten Seiz im Krieg erzählt.
Er war schon lange auf der Abschussliste, als die Braunen an die Regierung kamen. Der verantwortliche Parteigenosse, Gesinnungsschnüffler und Gernegroß wohnte gleich nebenan. Er hatte den Seiz auf die Liste gebracht, behauptet, er sei ein Roter. Wahrhaftig, das war er.
Er wurde eingesperrt. Man schlug ihm die Wohnung zusammen. Das war nichts Besonderes, das ist auch meinen Großeltern passiert. Doch als der Führer den Krieg verkündete, war der Seiz verschwunden. Frau und Kinder sagten den Braunen, sie wissen nicht wo er sei, vielleicht über die Grenze. Der Nachbar Parteigenosse wusste sehr gut, dass das nicht sein konnte. Die Grenzen waren dicht. Der Seiz musste sich irgendwo versteckt haben.
Geradeso war es auch. Er hockte unterm Dach seines Fachwerkhauses. Nachts hörte er BBC. "Die werden mich nicht kriegen, und der Traum wird nicht ewig dauern", sagte er zu seiner Frau. "Warum hörst du BBC? Du bringst uns noch an den Galgen. Was verstehst du denn von Politik, warum hast du dich eingemischt? Die tun was sie wollen, das siehst du doch."
"Weil alle dauernd die Klappe halten, tun sie was sie wollen. Überhaupt, Weiber verstehen nichts von Politik. Sie verstehen was vom Kinderkriegen und Haushalt führen, basta." "Und die Weiber können ausbaden, was die Mannsleute ihnen eingebrockt haben. Das verstehen sie, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt", konterte seine Frau. "Hättest mich nicht nehmen müssen, hast gewusst wie ich bin, und das war auch richtig."
Der Seiz blieb unterm Dach und der Krieg ging weiter. Die Lebensmittelkarten waren nicht großartig. Es gab, was es gab und das wurde immer weniger. Man ging auf Schwarzhandel. Der Nachbar Parteigenosse war immer noch hinter dem Seiz her. Er muss im Laufe der Jahre vieles getan haben, um dem Seiz auf die Spur zu kommen. Doch der war schlauer als er. Bei Nacht hörte er nach wie vor BBC. "Ich will ja nichts sagen, aber hier oben kannst du noch lange sitzen", sagte seine Frau. Jetzt geht's gegen Moskau, und die Russen sollen fast besiegt sein. Wo gibt es da noch Hoffnung?" "Den Napoleon hat da drüben auch der Teufel geholt", sagte der Seiz.
Dann kamen die ersten Bombennächte und die Großstädte versanken. Das war weit weg, aber der Seiz grinste auf seinem Dachboden. Es kam Stalingrad und es gab gefangene Russen im Ort. Die Roten, die überlebt hatten, versorgten heimlich die Russen draußen im Lager. Irgendwann merkten die Amis, dass es auch in unserem kleinen Ort Fabriken gab. Sie schmissen ihn in Trümmer. Der Seiz blieb oben auf dem Dachboden. "Komm in den Keller!", schrie seine Frau.
"Wenn ich verrecken soll, dann hier auf dem Dachboden. Im Keller erstickt man schwer", sagte er und wies durch die zersprungenen Dachziegel nach draußen. "Kommt drauf an, wer es länger macht. Ich oder der Führer."
Der alte Seiz hat gewonnen. Der Parteigenosse Gesinnungsschnüffler sah sich nach einer Rückversicherung um. Die versteckten Genossen trauten sich wieder auf die Straße. Der Seiz ging vorneweg mit seiner Fahne. Man versammelte sich vor dem Nachbarhaus. Man schrie: "Komm raus, du Verräter!" Aber dieser war bereits mit dem Chefredakteur der Lokalzeitung abgehauen.
Zehn Jahre später, als ich beim Seiz und seiner Frau in Pflege war, hat mich der oft am Nachbarhaus vorbeigeführt und gesagt: "Da wohnt er, vergiss es nicht." Ich habe es nie vergessen. Da hat er gewohnt. Der alte Seiz war wahrscheinlich ein widerwärtiges Aas. Aber konsequent war er.
© "Der Mann unterm Dach" – eine Kurzgeschichte von Berthold Zimmerer; mit freundlicher Genehmigung von Heidrun Böhm. Illustration: Thomas Alwin Müller, littleART.
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