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Manche Nacht kann schwer wiegen, sie kann mit ihrem Samt die Glieder sicherer binden als Lederschnüre oder Fesseln aus Stahl. Heute ist so eine Nacht, und ich weiß, dass ich in sie eintauchen muss, dass der Ozean aus Blau und Schwarz über mir zusammenschlagen muss. Meine Hände spielen mit den Wagenschlüsseln, fast zwanghaft und unruhig lassen meine behandschuhten Finger den Bund immer wieder über die Handfläche gleiten.
Es ist kurz vor Mitternacht und ich sollte längst draußen sein, sollte dieses dunkle Meer durchschwimmen wie ein Schattendelphin, über dessen Körper die Sterne leuchten wie phosphorisierende Quallen. Aber heute lässt mich der Spiegel nicht los, mein Bild hat meinen Blick auf die glatte Fläche geheftet und ich kann ihn nicht losreißen. Was ich sehe, ist Verfall – kein offensichtlicher Verfall ... noch nicht. Aber ich kann sie sehen, diese Müdigkeit und das schleichende Erschlaffen. Es ist ebenso wie die grau werdenden Haare ein Zeichen, das mir die Zeit gibt – eine Mahnung.
Es ist noch gar nicht so lange her, da ich den Wagen meist stehen ließ, dieses hochtechnisierte Geschoss, das mich fast unangreifbar macht. Aber ich kann nicht mehr darauf verzichten, der dunkle Delphin ist müde geworden und die Mühelosigkeit seines nächtlichen Tanzes ist vergangen. Was ist eine Legende? Nur ein Traum von irgendetwas, das zum richtigen Zeitpunkt vorbei ist? Wenn es sich so verhält, dann habe ich meine eigene Saga lange überlebt. Kein Körper ist vom Verfall ausgenommen – gleichgültig, wie man versucht, den Prozess aufzuhalten. Das habe ich gewusst, als ich anfing ... doch ich hatte es eine lange Zeit vergessen. Jetzt ist es vorbei, lange schon. Die einstmals überragende Technik, mit der ich operierte, mit der ich die Nacht fast beherrscht hatte, sie ist längst überholt und ich bin zu müde geworden, um daran zu arbeiten. Vielleicht könnte ich wieder aufholen, aber wahrscheinlich lohnt es den Aufwand nicht mehr.
Die Polizei ist allgegenwärtig, die Gegenseite ist es ebenfalls. Sie müssen alle ihren gottverdammten Hintern nicht mehr bewegen, um zu stehlen, niemand treibt sich mehr in dunklen Gassen herum, um jemandem eine Brieftasche zu rauben. Ich weiß nicht mehr, wann es den letzten Straßenraub hier in der Stadt gab – aber es muss Jahre her sein. Alles was in der Nacht auf den Straßen geschieht, sind die Rituale der Jugendlichen, die sich aufführen, wie sie es immer tun. Manchmal endet das tödlich ... manchmal machen sie einfach irgendetwas kaputt. Es sind Kinder, immer jüngere Kinder, die in den Falten des großen schwarzen Samttuches ihre Drogen verteilen, ihre Schwestern auf den Strich schicken und glauben, dass sie ihre erbärmliche Angst verstecken können, es hat nichts mit dem Gesetz zu tun. Es ist ein eigener Planet.
Ich sah, wie eine Bande jemanden zusammentrat, drosselte die Geschwindigkeit, um besser zu sehen. Aber ich hielt nicht, stieg nicht aus und zeigte mich nicht. Der Junge war wieder aufgestanden und schüttelte eine Flut von Gemeinheiten über die ganze verdreckte Straße. Er zeigte den Mittelfinger, die anerkannte Interlingua aller Viertel hier. Dieser Finger ist die neue Flagge des Landes oder sogar aller Länder der Welt. Es gab Gelächter und Gekreische von Mädchen – ich trat aufs Gas. Aber der Finger, dieser irre Finger mit der Macht, alles als belanglos zu markieren, was irgendjemandem wichtig sein könnte – dieser Finger ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Er verfolgte mich bis in meine Träume, er war auf meine Netzhaut gebrannt, wie eine Stele von irgendeinem bösen Gott.
Es gibt keine Verbrechen mehr auf den Straßen, es gibt nur böse Kinder, die Angst haben und verzweifelte, stinkende Menschen, die einen Winkel zum Schlafen suchen. Manchmal töten sie sich, manchmal helfen sie einander – meist verkaufen sie sich gegenseitig irgendetwas, das ihre Wunden für kurze Zeit anästhesiert. Alkohol, Drogen, Sex oder die megakurze Illusion von Macht. Schlagringe kommen nie aus der Mode – der Kick wirkt immer noch. Ein kurzer Hieb, ein unglaublicher Schwall von Blut und das Gefühl, für jetzt gewonnen zu haben. Bis zum nächsten Mal, wenn ein anderer den Ring hat und die eigene Nase bricht.
Wirklich wehgetan, wirklich geraubt, gestohlen, erpresst, vergewaltigt wird in den Häusern, und in dem feinen engmaschigen digitalen Netz, das alles umspannt und sogar die Nacht durchpulst. Ein gigantisches Schleppnetz, das sogar Schattendelphine fängt und lähmt. Ich mache meine Runden in meinem Wagen, weil ich zu müde bin, um zu gleiten – die Dächer sind für mich zu hoch geworden und die Gassen zu dunkel. Ich sollte hier bleiben diese Nacht und am besten auch alle anderen Nächte, die es noch gibt für mich. Aber was sollte ich dann tun – ich habe den Rückkehrpunkt lange hinter mir gelassen.
Ich muss ein wenig weggetreten sein, denn ich hatte nicht bemerkt, dass ich meine Hand an den Spiegel gepresst habe – so, als wollte ich der Gestalt da drin nahe sein. Auf meinem Rücken baumelt die Maske ... ich spüre sie und dann löse ich die Hand und taste danach. Als ich sie übergestreift habe, bin ich für einen Moment wieder das, was ich einmal gewesen bin – einen Lidschlag lang. Es ist nicht so, dass ich böse geworden wäre oder gleichgültig oder wirklich aufgegeben hätte. Aber alt bin ich geworden, und vor allem bin ich völlig nutzlos. Die Nacht und die Stadt – wir brauchen einander nicht mehr. Aber wir können uns nicht voneinander lösen, und für den alten Mann mit der Maske wird es Zeit – es ist Mitternacht geworden. Ich werde losfahren und durch die Straßen patrouillieren – auch wenn manche das Batmobil mittlerweile für einen Reklamegag halten.
© "Megachiroptera und die Zeichen der Zeit": Kurzgeschichte von Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Die Abbildungen zeigen einen Epaulettenflughund; Zeichnung von G. H. Ford aus "Proceedings of Zoological Society of London", 1859 (Quelle: Wikipedia, Lizenz: gemeinfrei).
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