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"Das Kind hat zu viel Phantasie", sagt die Mutter, und das Kind weiß nicht genau, was das bedeutet. "Sie versteht nicht, dass es nur ein Märchen ist, nichts weiter. Sie glaubt ganz fest an die Schneekönigin." Mutter lacht, und die Leute, die zu Besuch sind, lachen auch. Das Kind kennt dieses Lachen und mag es nicht. Es klingt wie die Eiszapfen der Schneekönigin: leise klirrend und nicht wirklich lustig.
Natürlich glaubt das kleine Mädchen an die böse Königin, denn wer sonst soll der Mama dieses Lachen angezaubert haben. Manchmal denkt das Kind an ihre Mama, wie sie war, bevor die kalte Hexe sie verzaubert hat. Da war sie anders gewesen, ganz anders. Wenn Anne, so heißt das Mädchen, nachts nicht schlafen konnte oder schlimm geträumt hatte, war Mama an das Bett gekommen und hat das Kind beschützt. Anne weiß noch, wie die Mama sie dann umarmt hat – ganz fest und warm war das.
Der Papa hat viel lustige Sachen gemacht für Anne, und er und Mama haben viel gelacht. Als die Schneekönigin gekommen ist, war er auf einmal ganz anders. Er ist dann nie mehr an Annes Bett gesessen und hat ihr etwas erzählt, er war ja kaum noch daheim. Die Schneekönigin spricht nicht, wenn sie zaubert, sie muss nur die Hand ausstrecken und einen anfassen, dann ist alles Warme und Weiche weg. Als der Papa dann weg war, hat die böse Königin auch die Mama angefasst. Und jetzt sitzen die Leute da und sagen komisches Zeug und lachen ihr Eiszapfenlachen. Wenn Anne ins Zimmer kommt, schicken sie das Kind weg – sie bekommt kleine Geschenke, damit sie weggeht.
Einmal ist das Kind nachts wach geworden, nach einem Eiskristalltraum, und sie hat gerufen, aber niemand ist gekommen. Da ist sie aufgestanden und wollte zur Mama – aber die war nicht da. Erst am Morgen hat Anne sie gehört, sie und noch jemanden, der aber nicht da ist, wenn sie aufsteht. Das kommt jetzt oft vor, und das Kind liegt unter der Bettdecke und hat Angst, es ist heiß und stickig darunter, aber wenn sie irgendetwas unter der Decke herausstreckt, kann die Schneekönigin sie anfassen. Dann kann sie nicht mehr lachen, und sie kann auch nicht mehr weinen – denn ihre Mama weint auch nicht mehr. Das hat sie früher getan, als Papa weg gewesen war.
Tommy ist auch weg – das ist ihr kleiner Hund gewesen. Mama sagt, dass er bei guten Leuten ist und dass er es da besser hat. "Ich habe doch keine Zeit mehr für den Tommy gehabt, nun hör auf zu heulen." Anne denkt, dass die Mama lügt – sie hat ihn der Schneekönigin gegeben und die hält ihn gefangen, weil sie ihn nicht verzaubern kann. Denn Tommy war nicht anders geworden, als einziger war er wie immer gewesen. Die Oma war noch einmal hier gewesen, nur einmal noch. Und sie hat ganz böse geschaut, dann hat sie laut mit Mama geredet und dann hat die Türe gekracht. Von Anne hat sie sich nicht verabschiedet. Sie ist die Mutter von Papa, und es wundert Anne nicht, dass sie auch verzaubert ist. Alle hat die Schneekönigin angefasst, und alle sind wie die Eiszapfen vor dem Fenster und am Geländer draußen. Es ist kalt, und Anne weiß, dass es wehtut, wenn man das Eis lange anfasst. Wenn man dann warm draufbläst, wird es wieder gut – aber beim Schneezauber der bösen Königin ist es für immer. Es wird nicht wieder warm.
Kinder werden auch verzaubert. Ihre Freundin Helli wohnt einen Stock höher, und ihre und Annes Mutti haben früher viel miteinander gelacht. Helli und Anne haben zusammen gespielt, aber jetzt darf Anne nicht mehr mit Helli sprechen. Und wenn sie sich begegnen im Haus, sieht Helli weg oder streckt die Zunge heraus. Die Mütter sprechen nicht mehr miteinander. Einmal hat Helli ein Wort gesagt, das Anne nicht verstanden hat. Es hat böse geklungen, so wie verzaubertes Eis. "Das hat die Göre von ihrer hochnäsigen Mutter gehört", hat Annes Mama gezischt. Anne hat gewusst, wieso das so ist – aber als sie von der Schneekönigin erzählt hat, wurde ihre Mama sehr böse. Sie ist entweder böse, oder sie vergisst, dass Anne da ist. Nur wenn ihre Freunde da sind, nimmt sie Anne in den Arm und lacht. Aber es ist kein Mamalachen, es ist ein Winterlachen.
Anne sitzt jetzt draußen auf der niedrigen Steinmauer. Sie hat überlegt, ob sie weglaufen soll, aber die Schneekönigin würde sie auf jeden Fall finden. Alle gehören jetzt zu ihr, der Papa und die Mama, Tommy und Helli. Anne ist allein und denkt, dass es besser ist, wenn sie auf die böse Schneehexe wartet. Wenn die sie erst verzaubert hat, dann spürt sie das nicht mehr und wird so wie die anderen.
Es ist dämmerig geworden mittlerweile, Mama weiß gar nicht, dass das kleine Mädchen draußen vor dem Haus sitzt. Sie hat Besuch und es ist, als ob alles von Eis bedeckt wäre in der Wohnung. Anne will keine Angst mehr vor dem Zauber haben. "Vielleicht tut es gar nicht weh, wenn die Schneekönigin mich anfasst", denkt sie. Und dann hört sie ein feines Klingeln, so wie klirrende Eiszapfen. Der Schnee knirscht leise, als sich die Schritte nähern, auf die Anne gewartet hat. Sie sieht nicht hin, und als eine unvorstellbar kalte Hand sie an der Schulter leicht berührt, zuckt sie nicht einmal zusammen.
© "Die Schneekönigin – Ein Eiskristalltraum": Kurzgeschichte von Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Die Abbildung zeigt ein Detail aus "The Snow Queen" – eine Illustration von Anne Anderson (1874–1930), Lizenz gemeinfrei / Public domain.
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