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Cover: © S. Fischer Verlag
"Warum Die Deutschen? Warum Die Juden?" Der Historiker und Journalist Götz Aly, Jahrgang 1947, geht dieser bewegenden Frage auf über 300 Seiten nach und kommt zu dem Schluss:
"Ein Ereignis, das dem Holocaust der Struktur nach ähnlich ist, kann sich wiederholen. Wer solche Gefahren mindern will, sollte die komplexen menschlichen Voraussetzungen betrachten und nicht glauben, die Antisemiten von gestern seien gänzlich andere Menschen gewesen als wir heutigen."
Nach Alys Ansicht wurde die deutsche Judenvernichtung zwischen 1933 und 1945 hauptsächlich durch die sehr menschliche Regung Neid verursacht, und man könne weder die Täter zu "außerirdischen Exekutoren" hochstilisieren, noch die Vorgeschichte der Vernichtung an "in bestimmte Namen einzelner deutscher Institutionen, Verbände oder bekannter Antisemiten bannen". Es geht Aly um die Beseitigung des bipolaren Schwarz-Weiß-Denkens bei der Betrachtung der Vorgeschichte zum Judenmord. Hierzu hat er in der Bibliothek der Gedenkstätte Yad Vashem eine reiche Fülle an Fakten gesammelt.
Der mit dieser Fülle konfrontierte Leser mag sich am Ende fragen: "Wer eigentlich nicht?" Der Autor entlarvt antisemitische Tendenzen bei Personen und Vereinigungen, die bisher als unbefleckt galten, entlastet die eine oder andere Person und führt der Komplexität wegen auch auf, was Antisemiten Gutes für Menschen taten. Der Leser erfährt sogar, wer den Begriff "Antisemitismus" geprägt hat.
Alys Betrachtungen beginnen etwa um 1810, als die Juden durch Verordnungen Napoleons und später Hardenbergs "von oben" emanzipiert worden waren.
Neid erregte der schnelle Aufstieg jüdischer Einwanderer: Der nach der Einwanderung in einer Einzimmerwohnung gelandete Jude erwirbt in 15 Jahren seine Selbstständigkeit, schickt seine Kinder alle aufs Gymnasium, und die erreichen akademische Berufe. Dazu brauchten christliche Familien mehrere Generationen. Aly führt dies auf die religiöse Bildung der Juden zurück. "Sie schulten den Verstand im Umgang mit Büchern, im gemeinsamen Lesen und Auslegen und im kontroversen Debattieren der heiligen Schriften. So trieben sie geistige Gymnastik – Christliche Geistliche hingegen ließen nur Glaubenssätze auswendig lernen."
Als Lehrer kann ich da dem Autor nur zustimmen. Lernen als Denken in Zusammenhängen hat sich an deutschen Schulen meines Erachtens bis heute nicht durchgesetzt.
Die Juden "sympathisierten mit dem Fortschritt: mit der Industrialisierung und mit der Idee des Liberalismus. Beide verhießen ihnen wirtschaftliche und politische Freiheit".
("Freisinn" ist ein Lieblingswort des Autors und er bedauert, "dass selbst das schöne deutsche Wort für Liberalismus – Freisinn – aus dem nationalen Sprachgebrauch getilgt wurde. Der mit nationalen und sozialen Akzenten propagierte Kollektivismus obsiegte über die Idee der persönlichen Freiheit.")
Mit den Veränderungen, die das aufkommende Industriezeitalter mit sich brachte, wussten die Juden vorurteilslos und anpassungsfähig umzugehen. Dafür gerieten sie immer wieder in die Schusslinie, wo wettbewerbsverhindernder Antiliberalismus propagiert wurde. Beispiele dazu finden sich im gesamten Buch.
Neben dem Neid sieht der Verfasser auch Kollektivismus jeder Art als Brutstätte des deutschen Antisemitismus. Auch den Prunkstücken der Rückschauvitrine bundesrepublikanischer Demokratie, den Demokraten des Wartburgfestes, des Hambacher Schlosses und der Frankfurter Paulskirche wirft er nationalen Kollektivismus vor:
"Auch deutsche Freiheitshelden und Demokraten, die sich unter den republikanischen Farben Schwarz-Rot-Gold sammelten, ebneten Wege, die am Ende nach Auschwitz führten. Sie proklamierten die Nation als Einheit von geschichtlicher Herkunft, Religion und Sprache. Sie stellten die Volkseigenart, den ethnisch definierten Volksgeist über die universellen Menschenrechte. Damit schlossen sie sogenannte Fremdlinge aus – im Namen nationaler Einheit."
Angemerkt sei hier: "Republikanisch" waren die genannten Farben zumindest in ihrem Ursprung nicht. "Es waren nicht die alten Farben des Reiches, wie manche Burschenschaftler kühn behaupteten, sondern die Uniformfarben der Lützowschen Freischaar, jener 'rein deutschen', in der zwei von den drei Gründern der Burschenschaft und zahlreiche andere Burschen gefochten hatten. Die Lützower führten auch eine goldgestickte, schwarzrote Fahne, und dieser geschichtlichen Herkunft der Burschenfarben entspricht auch deren Deutung: 'Aus der Knechtschaft Nacht durch blutigen Kampf zum goldenen Tage der Freiheit!' Für ein halbes Jahrhundert sollten diese Farben in der Tat die 'deutschen Farben' werden." (Aus Hans Blum: Die deutsche Revolution 1848–49. Florenz und Leipzig 1897)
Auch das angeschlagene Selbstbewusstsein der Deutschen wird beleuchtet. Ausgiebige Beispiele erklären, warum die napoleonische Besatzung als Unterdrückung und Demütigung betrachtet wurde und die Suche nach eigener Identität allzu leicht in Deutschtümelei mündete.
"Fleißige Historiker und Germanisten mussten die nationale Geschichtssaga und die Volksmärchen erst 'entdecken' ... künstlich zusammenkonstruieren, und zwar in einer Zeit der Entmythologisierung und des Rationalismus. Das konnte leicht schiefgehen."
Auch mit dem ab 1879 aufkommenden Volkskollektivismus setzt sich Aly gründlich und mit vielen Zitaten auseinander und folgert, der von dem Christlich Sozialen Stoecker formulierte Satz "Bitte etwas mehr Gleichheit!" sei "die zentrale und fett gedruckte Parole aller modernen Antisemiten". Der damalige Neid um Besitz und Aufstieg habe sich gegen Cohn und nicht gegen Meyer gerichtet.
Mit den Beispielen zur oft diskriminierenden Bekämpfung der jüdischen Konkurrenz an Universitäten im Hinterkopf frage ich mich, ob es dem christlich-deutschen Arbeitnehmer nicht ursprünglich gleichgültig war, welche Religion auf der anderen Seite des Chefschreibtisches vertreten war, bis ihm die Vorstellungen von Gleichheit "von oben" eingeredet wurden. Dieses Buch bietet genügend Beispiele, um aus der Geschichte zu lernen, dass der Versuch, Gleichheit per Verordnung zu schaffen, wenig hilfreich ist und sogar gefährlich werden kann.
Mit vielen Beispielen wird nachgewiesen, dass die SPD nicht antisemitisch war. Aber in der Weimarer Zeit konnten die rechtsnationalistischen Bewegungen das von SPD, KPD und Gewerkschaften geschaffene "eingeschliffene Freund-Feind-Schema nutzen, die Vorstellung, dass der Einzelne nichts, das Kollektiv alles sei und dass man gemeinsam für ein großes erlösendes Ziel kämpfe, das einen grundlegenden Umbau der Gesellschaft und neues Denken vorsah."
Der Autor kommt zu dem Schluss, dass SPD und Gewerkschaften das Gute wollten und "auf eine für die Verantwortlichen kaum überschaubare Weise" zum Bösen beitrugen.
Nach einer eingehenden Analyse vor allem von Naumanns National-Sozialem Katechismus: "Naumann kann nicht als Vordenker von Hitlers Antisemitismus gelten; aber er vermengte soziale, imperiale und nationale Gedanken zu einer geschlossenen Geistesströmung, die sich am Ende mit dem Gedankengut der NSDAP vermischen konnte."
Der Autor widmet sich neben Neid und kollektivistischem Gleichheitsstreben auch seiner dritten Säule der Judenvernichtung, der Rassenkunde ausgiebig. In Deutschland erst spät und zögerlich aufgenommen, von Rudolf Virchow mit wissenschaftlichen Untersuchungen widerlegt, sei sie dann vor allem von Eugen Fischer vorangetrieben worden.
Der interessierte Leser kann über mehrere Kapitel hinweg verfolgen, wie die Rassenkunde während der Weimarer Republik gehätschelt wurde. Für viel Geld wurden Lehrstühle eingerichtet und schließlich wurde sie sogar in den Schulen gelehrt. Eugen Fischer, der schon 1913 "Rassenhygiene" gefordert hatte, äußerte 1934: "Viele persönlich hochachtbare Menschen werden hart und grausam getroffen. Ist das Opfer zu groß, wenn es gilt, ein ganzes Volk zu retten?"
(Laut Wikipedia wurde Fischer 1952 Ehrenmitglied der deutschen Gesellschaft für Anthropologie und 1954 der deutschen Gesellschaft für Anatomie.)
Mit der gewohnten Fülle an Beispielen beleuchtet der Autor in der Folge, wie durch den Ersten Weltkrieg und die schon von dem Ökonomen Keynes vorhergesagten Folgen des Vertrags von Versailles nationales und soziales Gleichheitsprinzip zusammenwuchsen. Dies sowie Erbhygiene und Rassenlehre waren Pflanzen, die der Nationalsozialismus später nur zu gießen brauchte. Mit der Zeit wurden die Juden sowohl als Rasse wie auch als Klasse gesehen.
Die NSDAP sieht Aly als eine Partei der Aufstiegswilligen aus allen Schichten. Durch die gute Bildungspolitik der Weimarer Republik waren die Abstände zwischen jüdischen und christlichen Aufsteigern wesentlich geschrumpft. Aber Neid und Hass wurden dadurch nicht verkleinert. Daraus zieht der Autor diese Erkenntnis: "Sobald eine ökonomisch und sozial rückständige Majorität aufholt und der Abstand zur schneller vorangeschrittenen Minorität schrumpft, schwindet nicht etwa die Gefahr von Hass und Gewalt – sie wächst."
(Hier hat er meines Erachtens weit genug abstrahiert, um damit die These von der Wiederholbarkeit wenigstens teilweise untermauern zu können)
"Die Massenmobilisierung des Krieges, der republikanische Umsturz, der 1925 einsetzende, zwar kurze aber heftige wirtschaftliche Aufschwung, gute sozialdemokratische Bildungspolitik – all das beflügelte den Willen zur Veränderung. Just in dieser Lage bewirkte die Weltwirtschaftskrise Stagnation und Rückstau. Sie stoppte die allgemeine, nach oben gerichtete Bewegung abrupt. In dieser Situation gelang es der NSDAP, die zerstörte Perspektive individuellen Glücks in die politische Bewegung zum kollektiven Glück umzuleiten."
Die ursprüngliche Absicht des Autors war, die Zeit von 1800 bis 1933 darzustellen. Doch gibt er in dem Kapitel "Eine neue Moral für Raub und Mord" eine geraffte Übersicht darüber, wie es letztendlich zu den Maßnahmen von 1938 und 1942 kommen konnte, die dem von ihm zitierten Raul Hilberg zufolge, niemand schon 1933 hätte vorhersagen können.
In den letzten etwa 30 Seiten des Buches zieht Aly persönliche Konsequenzen aus dem komplex Dargestellten. Hier noch zwei Zitate zu Wiederholbarkeit:
"Die Verschlafenen neigen dazu, Trägheit als Nachdenklichkeit, mangelnde Schlagfertigkeit als Tiefsinn, fehlende Bildung als Innerlichkeit auszugeben. Sie suchen den Rückhalt in der Gruppe und steigern gemeinsam ihr schwaches Selbstwertgefühl, indem sie andere abwerten. Aus solchen einfach zu benennenden Elementen setzt sich der deutsche Antisemitismus zusammen. Wer ihn als Wahn, uns Heutigen fremde hypernationalistische Fehlentwicklung abtut, verkennt seine Natur."
"Die biopolitische Wissenschaft veredelte den Hass zur Erkenntnis, das eigene Manko zum Vorzug und begründete gesetzliche Maßnahmen. Auf diese Weise delegierten Millionen Deutsche ihre verschämten, aus Minderwertigkeitsgefühlen herrührenden Aggressionen an den Staat. So konnten staatliche Akteure jeden Einzelnen entlasten und individuelle Bosheit in die überpersönliche Notwendigkeit zur 'Endlösung der Judenfrage' verwandeln."
Dem sei noch ein Zitat aus einer ganz anderen Richtung angefügt:
"Die Tendenz (vielleicht sollte man es einen 'Reflex' nennen); einen Sündenbock ans Messer zu liefern, um die Gruppe vor dem Zerfall und damit sich selbst vor der Auflösung zu bewahren, liegt eindeutig tief in der sozialen Natur des Menschen begründet. Daraus folgt, dass die Weigerung des Menschen, Sündenböcke zu opfern – und seine Bereitschaft, seine und seiner Gruppe Situation und Verantwortung in der Welt zu erkennen und zu akzeptieren – ein wesentlicher Fortschritt in seiner moralischen Entwicklung sein würde, der sich vielleicht mit seiner Abkehr vom Kannibalismus vergleichen lässt. Wirklich erblicke ich in der Abkehr oder im Überwinden des Sündenbockprinzips die größte moralische Herausforderung des modernen Menschen. Von der Bewältigung dieses Problems könnte das Schicksal unserer Spezies abhängen."
(Thomas S. Szasz: Die Fabrikation des Wahnsinns, Gegen Macht und Allmacht der Psychiatrie. Frankfurt am Main 1976)
(Anmerkung: Wer sind die Sündenböcke hier und heute? Welches Potenzial liegt in dem Begriff "Reichensteuer"?)
Dieses Buch sollte die Diskussion um die deutsche Judenvernichtung 1933 bis 1945 beleben. Von Fakt zu Fakt lesend, habe ich mich nie gelangweilt, hätte mir aber eine in sich schlüssigere Gliederung gewünscht. Vielleicht hat der Autor auf diese verzichtet, um dem Leser die Komplexität des Dargestellten eindringlicher vorzuführen.
© Buchbesprechung "Warum Die Deutschen? Warum Die Juden?" von Friedrich Treber. Zitate wurden vom Autor als solche gekennzeichnet. Abbildung des Buchcovers: S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.
Das Buch: "Götz Aly – Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800–1933", S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. ISBN: 978-3-596-18997-7.
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