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Die Zeit, immer lag es an der Zeit. "Du kriegst nie etwas auf die Reihe", hatte Ulrich gesagt und die Türe hinter sich ins Schloss fallen lassen. Vera sah ihm hilflos hinterher, und dann passierte das, was immer passierte an einem Tag wie heute: sie weinte sich schwach und hilflos, heulte so erbarmungswürdig wie ein Hundewelpe, der allein gelassen wird. Sie hatte den größten Teil der Nacht wach gelegen, hatte sich in allen Einzelheiten vorgestellt, wie sie die Posten abarbeiten würde.
"Posten" war Ulrichs Wort für die anstehenden Dinge des Tages. Und heute war die Liste lang gewesen: ab acht Uhr ihr Teilzeitjob bis zum Mittag, dann der Termin beim Arzt. Einkaufen und Ulrichs Sachen aus der Reinigung holen. Dann nach Hause und saubermachen. Das war besonders wichtig, da sich die Schwiegereltern angesagt hatten. Das winzige Gästezimmer musste gelüftet und gereinigt werden, denn Ulrichs Eltern würden über Nacht bleiben. Da war dann noch der Hund, der eigentlich ihrem Mann gehörte, den aber nur Vera ausführte. Sie hatte zwanghaft überlegt, ob sie den Termin beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt verlegen sollte, aber sie hatte so lange darauf warten müssen und ihre Atembeschwerden wurden schlimmer.
Sie verfluchte sich dafür, dass sie nicht gestern eingekauft hatte – aber da hatte sie etwas länger arbeiten müssen und dann noch ihre Freundin getroffen, was gute dreißig Minuten gekostet hatte. Leider hatte Ulrich sie beim Nachhausekommen erwischt, wie sie mit Inge plauderte – dummerweise direkt vor der Einfahrt. Als dann das Essen später auf den Tisch kam, konnte sie sich einiges über das "sinnlose Geschwätz mit dieser dummen Kuh" anhören. Als die Wäsche dann endlich fertig war, lief schon der Spätfilm im Fernsehen und Ulrich war ziemlich wütend gewesen.
"Kein Wunder, dass du nie rechtzeitig fertig bist, du hast keine Ahnung von Planung", hatte er gekeift. Vera genoss in hilflosem Zorn dieses Wort, das – wie sie wusste – selten auf Männer angewendet wurde. Ulrich wäre entsetzt gewesen, hätte sie das ausgesprochen, denn Männer keifen nicht – sie stellen Dinge klar. Dabei hörte sich ihr Ehemann kaum anders an als seine Mutter, wenn sie glaubte, einen Grund zum Schimpfen zu haben. Und das glaubte sie eigentlich ständig.
Jedenfalls war es einfach zu hektisch zum Einkaufen gewesen, und deshalb musste Vera es heute tun – gerade heute. Die zwanghaften Überlegungen gerieten zur fixen Idee – welche Schuhe sie anziehen sollte, um die Strecken zu bewältigen. Schnell zu bewältigen vor allem. Und ob sie die Zeit haben würde, noch zu duschen, bevor Ulrichs Eltern kommen würden, nachdem sie sich so abgehetzt haben würde. Vielleicht reichte es gerade noch für eine kleine Auffrischung. "Zeit", dachte Vera. "Wenn ich die Zeit nur anhalten könnte." Diese Idee, diese feste Gedankeninstallation begleitete sie seit Jahren. Zeit war zur Besessenheit geworden, so wie Schokolade bei Menschen, die immer Diät hielten. Irgendwann kreisen die Gedanken nur noch um das Essen – aber es kam unweigerlich der Zeitpunkt, an dem der Heißhunger übermächtig wurde, und dann wurde geschwelgt.
"Kann man in Zeit schwelgen?", fragte sich Vera. Und dann rief Ulrich vom Wohnzimmer herüber. Fragte, ob sie denn nun endlich fertig wäre. Schließlich musste er die Eltern vom Bahnhof abholen. Und anstatt Vera noch die letzten Handgriffe machen zu lassen, bestand er darauf, dass sie mitkam. Dabei war das Gästebett noch nicht bezogen – eine Tatsache, die für Ulrichs Mutter eine herrliche Gelegenheit sein würde, Vera herabzusetzen. Zu keifen. Dieses Wort bewirkte in Vera für einen kurzen Moment so etwas wie eine zornige Regung. "Ich brauche mehr Zeit!", schrie sie. "Zeit!"
Und dann war es plötzlich still. So still, dass die Luft um Vera herum wie ein weicher Mantel wirkte. Von ihrem Mann war nichts zu hören, und da ging Vera hinüber in das Wohnzimmer, um nach ihm zu sehen. Ulrich stand da, mit wütendem Gesicht und halb zum Schrei geöffnetem Mund. Er stand in unnatürlich schräger Haltung da, aber er fiel nicht, er sah aus wie eine Statue. Er stand still, er war angehalten. Die Zeit war angehalten.
Vera sah sich um – angstvoll und zitternd. Was war geschehen, was hatte sie getan? Das hatte sie laut gesagt – es war wie ein Stein, der auf Eis prallte. Töne in einem Vakuum. Eigentlich unmöglich, aber Ulrichs lächerliche, festgefrorene Haltung war eigentlich auch unmöglich.
"Du liebe Zeit", flüsterte Vera und Ulrich schrie: "Wo bleibst du denn, du Transuse! Es ist immer das Gleiche mit dir!" Es war wie ein Auftauchen aus dem Wasser. "Wie kannst du mich so erschrecken", kreischte Ulrich da – er war aschgrau geworden, denn seine Frau stand urplötzlich vor ihm. Für ihn hatte es keinen Stillstand gegeben – sie war nicht da gewesen und jetzt stand sie vor ihm. "Zeit", sagte Vera ... und sofort war er wieder starr.
In den folgenden Tagen und Wochen genoss Vera die freie Zeit, sie schwelgte geradezu darin. Der Besuch der Schwiegereltern war für sie ein Genuss gewesen, denn Vera hatte die Zeit angehalten, um die fälligen Dinge zu erledigen, um sich ein ausgedehntes Nickerchen zu gönnen, um zu lesen und lange in der Badewanne zu liegen. Und während dieser Betätigungen saßen alle erstarrt am Tisch, standen irgendwo im Raum, waren Münder im Gespräch gestoppt. Draußen, vor dem Haus, war ebenfalls alles im absoluten Stillstand. Aber Vera war am Schwelgen. Sie war immer sorgfältig frisiert und zurechtgemacht, denn sie verfügte über alle Zeit der Welt – wann immer sie es wollte. Kurz vor acht Uhr hielt sie den Lauf der Dinge an – legte sich nochmal in ihr warmes Bett. Punkt acht war sie im Betrieb – es war alles so einfach geworden.
Ulrich bemühte sich redlich, ihr Vorhaltungen zu machen – aber es war sehr schwierig für ihn, Gründe dafür zu finden. Alle Posten waren immer abgehakt und erledigt. Vera genoss ihr Leben wie sie es nie zuvor getan hatte. Sie las alle Bücher, die sie interessierten und für die nie genug Zeit gewesen war. Sie lief durch den Vorort, ein gutes Buch vor der Nase ... nichts konnte ihr passieren, sie war das einzige Lebewesen, das sich bewegen konnte. Und immer öfter überkam sie eine grenzenlose Freude, eine Ausgelassenheit, die sie zum Kichern brachte. Vera kicherte in sich hinein, lautes Lachen entsprach ihr nicht. Und so kicherte sie vor sich hin, unbeschwert und ohne Hemmungen.
"Bekommt sie etwas oder legen wir sie so hin?" Der junge Mann in den weißen Hosen mit dem dazu passenden Kittel blickte fragend zu dem älteren Pfleger, der die weißhaarige Frau mit geübtem Griff vom Rollstuhl auf das Bett hob. "Wenn sie eine dieser Phasen hat, sehen wir nach einer Stunde oder so nochmal nach ihr. Schläft sie immer noch nicht, kriegt sie etwas zur Beruhigung. Sonst kichert sie die ganze Nacht durch. Wie lang sie hier ist? Na so etwa zwanzig Jahre. Spricht nie, alles was man von ihr hört, ist manchmal dieses sonderbare Gekichere."
© "Zeitansage – Im absoluten Stillstand": Kurzgeschichte von Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Illustration: Thomas Alwin Müller, littleART.
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