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Sie hieß Thea und war lange Zeit meine beste Freundin. Wir waren so um die elf Jahre alt und die Häuser, in denen wir wohnten, standen sich gegenüber. Meine Großeltern, bei denen ich aufwuchs, mochten Thea nicht – warum das so war, weiß ich nicht. Jedenfalls mochte ich Thea's Vater nicht besonders – eigentlich ein gutmütiger Mensch, war er doch ziemlich grob im Umgang mit Kindern. Heute denke ich, dass er es nicht besser wusste, er konnte mit kleinen Mädchen nicht viel anfangen. Aber Thea und ich ließen uns nicht wirklich stören – wir erfanden eine Geheimschrift, in der wir uns Botschaften sendeten. Zu unserem Kummer besuchten wir nicht dieselbe Schule, das kam später.
Wir wohnten nahe am Wald und trieben uns stundenlang draußen herum, kletterten auf Bäume oder legten unser mageres Taschengeld in Fahrten mit dem Ruderboot auf dem kleinen Weiher an. Thea hatte sehr viel Phantasie und eine unheimliche Kreativität – sie hatte tolle Einfälle, wenn sie auch gerne dominierte. Sie war ein großes Mädchen, größer als die meisten von uns, und sie wusste das auch einzusetzen. Irgendwann verkrachten wir uns, wie das eben so geht bei "besten Freundinnen", aber wir kamen wieder zusammen, als sie an unsere Schule versetzt wurde. Natürlich war Thea eine der besten Schülerinnen, wenn sie auch ihrer alten Klasse nachtrauerte. Da sie nur mich kannte, schlossen wir uns wieder einander an. Aber wir waren jetzt vierzehn, und alles war nicht mehr so einfach wie früher. Die Siebziger hatten gerade begonnen, und alles war neu und aufregend – Aufbruchstimmung.
Heute weiß ich, was die Mädchen unserer Clique damals so neidisch machte: Thea's Aussehen nämlich, das ein großes Unglück für sie selber war. Sie sah einfach toll aus – die Figur gerade richtig, nicht dürr, aber schlank und toll geformt. Sie hatte sehr langes, dichtes und brünettes Haar, dazu große braune Augen und so einen Schmollmund. Es war ja die Zeit der Miniröcke und engen Jeans, und wenn Thea dabei war, konnten wir anderen getrost in Müllsäcken herumlaufen, man hätte es nicht bemerkt. Dabei war sie ein dreiviertel Jahr jünger.
Die allertollsten Typen (was das Aussehen betraf) drängelten sich um sie, diese schlanken Jungs mit den langen Beinen und dem langen Haar, die allesamt aussahen wie Rockstars. Aber das Verrückte daran war, dass trotz des sexuellen Aufbruchs die alten Vorstellungen noch in vielen Köpfen zementiert waren. Auch in denen mit den wilden Mähnen – und bei Mädchen wurde nicht toleriert, was bei Jungs Programm war.
Thea war immer richtig verliebt und immer bereit zur Aufopferung, so jung sie auch war. Sie ließ sich selber völlig außer Acht, übernahm völlig die Ansichten des jeweiligen Typen und seiner Clique, stellte sich auch gegen ihre eigenen Freunde. Ich erinnere mich an einen Tag im Szene-Café, als Thea von unserem Tisch aufstand und sich allein an einen anderen Tisch setzte, als ihr Freund hereinkam – er mochte uns nicht und sah es nicht gerne, dass sie mit uns rumhing. Sogar damals waren wir nicht wütend oder beleidigt – wir trauerten. Wir trauerten um die Selbstachtung unserer Freundin, die da vor unseren Augen starb.
Und es kam, wie es kommen musste – sie kam mit Drogen in Kontakt, wenn auch nicht mit den ganz harten Sachen, wie zum Beispiel Heroin. Sie wurde weitergereicht und bemerkte es nicht einmal in ihrer Sehnsucht nach Liebe oder auch Anerkennung. Dann wurde sie schwanger und bekam eine vorgezogene Heiratserlaubnis, weil sie noch nicht ganz sechzehn war – damals gab es das noch, wenn ein Kind unterwegs war.
Thea versuchte sich dann als Haus- und Ehefrau ... das ging gründlich daneben. Sie versuchte, das Sauberkeits- und Familienideal aus dem Werbefernsehen zu leben, zoffte sich mit ihrem bärtigen und langmähnigen Ehemann bis aufs Blut und brauchte therapeutische Behandlung. Eine aus unserer Clique mochte nicht aufgeben und motivierte die unter Beruhigungsmitteln stehende Thea zu Dingen wie Modellieren oder Ähnlichem – aber das dauerte nicht sehr lange, denn Thea ließ sich scheiden und rutschte in eine andere Beziehung – sie konnte sich nur über einen Mann definieren. Das letzte Mal sah ich sie vor ihrer zweiten Heirat mit einem Fernfahrer. Noch war sie zu erkennen, äußerlich jedenfalls – aber sie redete und sprach, als sei sie fünfzig und nicht gerade über zwanzig.
Ab und an höre ich von ihr – sie ist, wie es heißt, zur Trinkerin geworden und hat viel an Gewicht zugelegt. Sehen möchte ich sie nicht, wahrscheinlich würde ich nach dem intelligenten, kreativen und wunderschönen Mädchen suchen, das mit uns in das Leben aufgebrochen war, das aber nie eine Chance für sich zugelassen hatte, weil sie sich nicht als vollwertig empfand, wenn sie sich nicht völlig aufgeben konnte, und dann so sehr unter diesem Umstand litt, dass sie die Beziehungen, die sie hatte, mit ihrem Leidensdruck zerstörte.
© Textbeitrag "Thea – Trauer um die beste Freundin": Izabel Comati (Pressenet), 2012.
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