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Ich war mir nicht wirklich bewusst darüber, dass ich einer aussterbenden Art angehöre. Solange ich im Paradies der Unkenntnis lebte, fand ich das Leben zwar zuweilen hart, zum großen Teil aber durchaus meisterbar, selbst was extreme Situationen angeht. Dass etwas nicht stimmte, wurde mir erst langsam klar. Eine hochgezogene Braue hier, ein verächtliches Kichern dort ... es dauerte ein wenig, bis ich das alles auf meine Person bezog.
Alte Freunde zogen sich zurück, ohne dass dieser Umstand gleich in meinen Fokus geriet. Was anfangs kaum hörbar getuschelt wurde, formte sich schnell zu einem gezischten und mit überheblichem Gesichtsausdruck hingespuckten Wort: "Gutmensch". Eingebettet in ganze Sätze wie: "Da kommt unser Gutmensch", oder: "Ihr Gutmenschen habt doch überhaupt keine Ahnung", wurde dieser sonderbare Begriff zum ständigen Begleiter meiner sozialen Interaktionen. Meine Teilnahme an Diskussionen, welche die neuesten Nachrichten oder das Tagesgeschehen betrafen, wurde immer seltener, denn sobald ich meinen Mund öffnete, um etwas beizutragen, wurde ich sofort wegen Naivität und Blauäugigkeit disqualifiziert. "Da ist ja wieder unser Gutmensch!", hieß es dann.
Das letzte Mal, als das geschah, ging es um ein Treffen, das die Integration der Migrantenjugend im Stadtviertel zum Thema hatte, deren von der Kirche eingerichteter Treffpunkt den Bürgern ein Dorn im Auge war. Die Diskussion wurde sehr intensiv, wenn ich auch kaum etwas davon verstand – als ausgewiesener Gutmensch musste ich ja den Mund halten, wie ich mittlerweile gelernt hatte. Deshalb verabschiedete ich mich auch recht schnell, was mir auch nicht besonders Leid tat, da ich noch fünftausend selbst abgezogene Flugblätter einwerfen musste, die den Bürgern die Idee eines Multikultitreffs nahebringen sollte.
Während dieser Aktion dachte ich an meine mittlerweile aufgekommenen leichten Zweifel, denn da alle Welt etwas gegen mich hatte, konnte ja tatsächlich etwas dran sein. Es war abzusehen, dass ich in nicht allzu ferner Zeit völlig ohne Freunde oder Bekannte sein würde, was meinem ausgeprägten Hang zur Geselligkeit entgegensteht – zudem würde ich die meisten davon sehr vermissen, wie ich mir dachte. Es wäre, so sinnierte ich, während ich Flyer für Flyer in Briefkästen steckte, vielleicht Zeit, um meine Einstellung zu ändern. Und in den folgenden Wochen bemühte ich mich sehr darum. Leute mit Spendendose, die an meiner Türe klingelten, fertigte ich ab, nicht ohne die eine oder andere zynische Bemerkung über verschwundene Spendengelder (den genauen Wortlaut hatte ich mir auf einen kleinen Zettel geschrieben und auswendig gelernt). Dadurch sparte ich einiges an Geld, mit dem ich allerdings vorerst nichts anzufangen wusste.
Dann lud ich einige meiner Bekannten ein, die ich zufällig traf, und erzählte dann von meinen Bemühungen. Ich hob die Brauen, grinste schief und sagte meine gelernten Sätze her. Der Erfolg war durchschlagend: "Na, da ist unser Gutmensch ja endlich mal so richtig wach geworden", hieß es dann. Als ich dann noch den einen oder anderen Spruch über die ausländischen Mitbürger am Nebentisch nachplapperte, waren alle sehr zufrieden. Beflügelt von meinem Erfolg, ließ ich nebenbei verlauten, dass ich eine Katze überfahren hatte, weil ich doch nicht für jedes Vieh bremse (das war, wie ich zugeben muss, eine Lüge). Man war fassungslos, aber angenehm überrascht von mir, der es "faustdick hinter den Ohren" habe, wie es dann lachend hieß.
Nach diesem erfolgreichen Nachmittag gab ich meinen freiwilligen Dienst als ehrenamtlicher Helfer im Frauenhaus auf und bereicherte das nächste Treffen mit meinen Bekannten mit frauenfeindlichen Sprüchen, die ich mir im Internet zusammengesucht hatte. Jeder, auch die weiblichen Anwesenden, zollte mir begeistert Beifall. Das ständige Magendrücken nahm ich dafür bereitwillig in Kauf.
Mittlerweile habe ich die Eingewöhnungszeit gut hinter mich gebracht und kann die Sprüche, die ich früher auswendig lernte, erweitern und variieren. Dass es immer die gleichen sind, fällt niemandem auf, da alle im Großen und Ganzen immer wieder dasselbe sagen. Man vertraut mir wieder und sucht meine Gesellschaft, die Zeit der hämischen Bemerkungen ist vorbei – außer vielleicht den Sprüchen, die auf mein Äußeres zielen, das zugegebenermaßen etwas blass und kränklich wirkt. Meine Antwort darauf ist meist eine eher schlüpfrige Bemerkung, weswegen man mich um meine tollen Nächte fast beneidet.
Die Phantasie meiner Bekannten ist da wohl sehr einseitig, was mir sehr entgegenkommt, denn meine Nächte sind arbeitsreich und kräfteraubend. Was ich früher offen tun konnte und im Licht des Tages, tue ich nun im Schutz der Dunkelheit: Flyer verteilen, Frauen zum Frauenhaus eskortieren, im Multikultitreff bei der Renovierung helfen (ich schob Schichtarbeit als Grund vor, weil ich nachts dort male und hämmere). Meine Spenden lasse ich über das Online-Banking laufen und der nächste Urlaub wird in ein Krisengebiet gehen per Lastwagen. Wir bringen Kleidung und Medikamente dorthin. Meine Bekannten glauben mich auf einer angesagten Insel zu der Zeit. Ehrlich ist das ganze natürlich nicht, was mich auch etwas belastet ... aber auch Gutmenschen haben eine Schwäche: sie sind nicht gerne einsam.
© Textbeitrag "Bekenntnisse eines Gutmenschen": Izabel Comati (Pressenet), 2012. Bildnachweis: Vielfalt der Menschen, CC0 (Public Domain Lizenz).
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