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Ich sehe noch immer ihr Gesicht vor mir, ihre weiche Haut mit den tiefen Falten und den lebendigen, dunkelbraunen Augen. Sie war schön gewesen in ihrer Jugend, wunderschön. Sie verkörperte perfekt den Madonnentyp, mit dem schmalen Gesicht und diesen schweren, um den Kopf gelegten Zöpfen. Um die rankte sich eine ihrer Geschichten, um diese Flechten, denn als junge Frau musste sie das Haar kurzschneiden lassen. Einer der Zöpfe war in eine Maschine geraten, in der Fabrik, in der sie gearbeitet hatte, und musste abgeschnitten werden, um sie zu befreien. Einige Zeit legte sie den verbleibenden Zopf um ihren Kopf, da sah man das nicht so sehr – aber dann war sie es leid und ließ sich einen Bubikopf machen.
Ihr Vater warf sie erst einmal hinaus, als er das merkte – denn solche Frisuren waren nichts für anständige Frauen. Nur "schlechte Weiber" trugen so etwas. Zu dem Zeitpunkt war sie allerdings schon Ehefrau, was ihren Vater in diesem Fall nicht interessierte. Ihr Elternhaus muss sehr streng gewesen sein – sie hatte neun Geschwister und musste hart arbeiten. Ihre Mutter mochte den Verehrer der Tochter nicht, denn der war ihr zu elegant. Er war der attraktivste Kerl weit und breit, und arbeitete noch neben seinem Schuhmacherberuf, um sich gut kleiden zu können – "Stenz" nannte man so etwas, und man war mehr als misstrauisch. Es dauerte lange, bis die Eltern eingesehen hatten, dass man schick aussehen und trotzdem ehrenhafte Absichten haben konnte.
"Er musste doch in den Krieg", sagte Oma, wenn sie davon erzählte – was sehr selten war – dass ihr erstes Kind außer der Ehe gezeugt worden war. Auf einmal gingen die wehrfähigen Männer fort, man wusste nicht, ob man sich wiedersah ... und dann sagte sie seufzend: "Wir wussten es nicht besser." Der Kleine starb noch als Baby, eine Maserninfektion wurde ihm zum Verhängnis ... keine Seltenheit in den Kriegszeiten. Wie ihr Vater darauf reagiert hatte, habe ich nicht erfahren ... aber tatsächlich fand die Hochzeit so schnell statt, wie es nur ging. Wahrscheinlich beim ersten Heimaturlaub.
Dann kamen noch zwei Mädchen, im Abstand von acht Jahren – Großvater war lange im Krieg und war auch in Gefangenschaft geraten. Zuhause kämpfte sie, wie alle anderen Mütter, um das Überleben – sie hatte viele Geschichten vom Hamstern und Tauschen, und vor allem vom Improvisieren – es hörte sich an, als ob sie nie etwas anderes getan hatte, als genau das. Es waren meist lustige Anekdoten, die traurigen Sachen behielt sie für sich ... sie war nicht gut darin, so etwas zu erzählen. Weinen habe ich sie nicht oft gesehen, vielleicht drei- oder viermal in all den Jahren. Dabei hätte sie Grund genug gehabt für Ströme von Tränen. Aber ihr hintersinniger Humor war ihre Rüstung geworden, sie konnte sogar sarkastisch sein – doch ihr ganzes Wesen war freundlich.
Frau war sie zu einer Zeit, in der anständige Gattinnen Schürzen trugen und auf ihre weiße Wäsche stolz waren. Kittel in hübschen Farben waren eine ihrer Leidenschaften, ebenso wie das Aufräumen, Putzen und Saubermachen. Es war das, woran sie gemessen worden war, wie ihre Zeitgenossinnen auch. Sie hat lange gearbeitet, denn ihr Mann kam nicht gerade völlig gesund aus dem Krieg zurück.
Kaum war Frieden, erfasste ihn ein Motorrad und schleifte ihn mit – keiner der Ärzte hatte geglaubt, dass Großvater überleben würde. Er erholte sich aber und wurde der Freund meiner frühen Jahre – er liebte das Wandern und lehrte mich, die Natur zu lieben. Er arbeitete als Hausmeister, bis ihm das Gehen schwerfiel ... seine Frau stopfte die Löcher in der Haushaltskasse, indem sie in der Fabrik arbeitete und noch Putzstellen annahm.
Die Sonntage liebte ich besonders, die Atmosphäre war so sehr "zuhause", wie es mehr nicht möglich ist – aber teuer erkauft. Als Kind war mir das nicht klar, aber meine Großmutter arbeitete auch an diesen Tagen ununterbrochen. Ihr Ehemann erwartete ein besonderes Essen am Sonntag, nicht in böser Absicht (er half sehr gut im Haushalt mit, was mich immer noch erstaunt) – ich glaube er hat nie darüber nachgedacht (um ihre erste Waschmaschine musste sie kämpfen). Sie stand schon am Morgen am Herd und briet und kochte, am einzigen Tag, an dem sie hätte ruhen können.
Was mich heute tröstet, ist die Tatsache, dass sie verstand, aus allen Dingen Freude zu gewinnen – ein Fernsehspiel, einer ihrer geliebten Westernfilme oder unsere Touren durch den Wald ... sie genoss das alles auf eine intensive Weise, wie es heute kaum mehr möglich ist. Ihre Sorgen rissen nie ab – doch als sie Witwe wurde, nahm sie dieses neue Leben ebenso an, wie sie das alte angenommen hatte. Alleinsein war sie nicht gewohnt – sie stand um sechs Uhr früh auf, um ihre Wohnung sauberzumachen, dann traf sie sich mit anderen Senioren, machte Kurzreisen und flog sogar nach Amerika, um ihre Enkelin zu besuchen.
Sie hatte endlich eine Art Entschädigung für die jahrelange Plackerei – aber sie konnte nie wirklich aufhören mit dem "sich Sorgen machen", es war ihre Natur. Ich liebte sie unendlich – aber ich denke heute, dass es doch nicht genug war. Es konnte nie genug sein, aber wahrscheinlich hatte sie es gewusst. Die Zeit der kleingeblümten Kittelschürzen ist lange vorbei, die Großmütter von heute sehen völlig anders aus. Sie riechen auch anders, nicht mehr nach Kernseife, Kölnisch Wasser oder Lavendel.
Doch ich sehe das Muster und die Farben dieser Kittel noch immer so lebendig vor mir (sie bevorzugte violett und größere Muster, was schon recht kühn war), dass ich sie zeichnen könnte. Beim Ausgehen hielt sie sich schlicht und eher elegant, was ihr vorzüglich stand – doch das Zuhause, das war Großmutter mit Kittel.
© Textbeitrag "Die Schürzen meiner Großmutter": Izabel Comati (Pressenet), 2012. Die Abbildung zeigt das Gemälde "Großmutters Geburtstag" von Ferdinand Georg Waldmüller aus dem Jahre 1856; Lizenz: gemeinfrei.
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