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Geschichten sind Fenster in andere Welten, und sie haben bei all ihrer Vielfalt so manche Botschaft gemeinsam. Da gibt es zum Beispiel die bekannte Story von Dr. Jekyll und Mr. Hyde (von Robert Louis Stevenson), im Grunde eine Parabel über den Kampf von Gut gegen Böse. Zwar gibt es hier keinen Feind, der außerhalb lauert, sondern es geht vor allem um das Böse in uns selbst, das zweifellos ebenso existiert wie das Gute. Zur damaligen Zeit war die Geschichte und die Verfilmung ein Meilenstein für das Horrorgenre, bis heute hat sich an ihrer Beliebtheit nichts geändert.
Auf den ersten Blick würde man die Geschichte um Tarzan, dem Affenmenschen, eigentlich für eine völlig andere Art von Legende halten – aber das ist sie nicht. Man muss sie vor dem historischen Hintergrund sehen, also einer Zeit, die gewisse Ängste in Hinsicht auf das "Wilde" in uns hegte. Wilde Tiere waren faszinierend und bedrohlich zugleich, und Afrika galt als Land des Abenteuers schlechthin. Löwen, Leoparden, kriegerische Menschen und der Dschungel – das waren auf jeden Fall die Hauptzutaten für Jungensträume. Und dann tauchte diese phantastische Geschichte von Edgar Rice Burroughs auf. Ein menschliches Baby wird von einem Affenweibchen geraubt und großgezogen. Seine Eltern sind umgekommen und der kleine Waise wäre eigentlich dem Tod geweiht – aber ein Affenclan nimmt es auf. Der Junge überlebt und versteht sich als Mitglied des Verbandes, bis er auf Menschen trifft.
Jeder kennt den Verlauf – der junge Lord Greystoke, darum handelt es sich nämlich, wird identifiziert und reist nach England. Natürlich fällt ihm dieser Wechsel mehr als schwer – er verzweifelt wohl an den sonderbaren Verhaltensweisen der Menschen. Trotzdem passt er sich an – diese Fähigkeit hat ihm vor Jahren das Leben gerettet bei den Affen. Hier wird das Bild des "edlen Wilden" gezeichnet, der völlig unverdorben von der Zivilisation mit Unverständnis reagiert und sich abgestoßen fühlt. Das Interessante dabei ist, dass Tarzan, anders als der unglückliche Dr. Jekyll, in beiden Welten zugleich lebt. Der Arzt ist entweder ein angesehenes und sozial völlig integriertes Mitglied der Gesellschaft, oder aber ein widerlicher Kerl von abgrundtiefer Bosheit. Dazwischen gibt es nichts. Die beiden Wesen sind in ihm, aber sie kommunizieren nicht wirklich miteinander, sondern bekämpfen sich.
Der junge John Clayton, also Tarzan, ist fähig, zwischen seinem Leben als Adliger und dem als "Wilder" zu wechseln. Er wird wieder an Lianen durch den Dschungel Afrikas schwingen und in verschiedenen Tiersprachen kommunizieren – aber er bleibt auch Lord Greystoke. So gesehen verkörpert er ein Ideal: er ist ein Mensch, der die wilde Seite gebändigt hat. Bei beiden Modellen nutzt er die positiven Aspekte – und er bleibt sich treu. Er kann also beides haben – das ungebundene und "wilde" Leben mit seinen Wahlverwandten in der Wildnis, und ebenso die gesellschaftliche Anerkennung. Er ist wirklich frei, denn er kann mit dem existieren, was die Natur ihm gibt, und er verfügt in der Zivilisation über genug Mittel, um einen hohen Lebensstandard zu halten. Er muss nicht fast nackt in einem Baumhaus wohnen, weitab von anderen Menschen und nur mit tierischer Gesellschaft – er will es, und er weiß, was er tut. Wahrscheinlich liegt hierin einer der Gründe für den unglaublichen Erfolg dieses Buches und natürlich der vielen legendären Verfilmungen.
Dr. Jekyll muss die triebhafte Seite von sich abspalten, er unterdrückt sie für gewöhnlich dermaßen, dass er sie nicht wahrnimmt, was letztendlich zur Katastrophe führt. Er ist erbarmungswürdig unfrei und gefangen, denn die "Kreatur" ist dabei, die Oberhand zu gewinnen und verschafft sich zunehmend auch freie Bahn gegen den Willen Dr. Jekylls. Die Lektion wurde nicht gelernt, nämlich dass eine Eliminierung des als "Bösen" Erlebten nicht möglich ist. Gerade die überbetonte Anständigkeit ohne jeden Tadel, das absolute Fehlen von Dunkel, macht Mr. Hyde so stark und so absolut böse. Er wurde nie integriert und ist als eigenständiges Wesen nicht sozialisierbar.
Tarzan hatte niemals versucht, manche Gegebenheiten seiner Existenz nicht anzuerkennen. Für ihn gibt es Grundsätze, die auf einem funktionierenden Miteinander basieren. Nicht einmal die moderne Zivilisation verschiebt seine Wahrnehmung, außer vielleicht, dass sie ihn dazu bringt, sein Leben im Dschungel vorzuziehen.
Wir sind heute meist ebenfalls gezwungen, in mehr als einer Welt zu leben. Leider ist es für uns nicht so einfach wie für Lord Greystoke, für manche allerdings so katastrophal wie für Dr. Jekyll.
© "Lord Greystoke – Was Tarzan und Dr. Jekyll gemeinsam haben": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Illustration: Thomas Alwin Müller, littleART.
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