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Alter – das ist etwas Relatives, sieht man von den unvermeidbaren körperlichen Abnutzungen ab, und trifft sich auf diese Weise mit der Zeit. Die nämlich unterliegt ebenfalls der Relation und ist eher ein gefühlsmäßiger Zustand als eine konstante Einheit.
Was "alt" nun wirklich bedeutet, ist von Kultur zu Kultur sehr verschieden. Die hochgeachteten Alten gab es bei uns eigentlich nie so richtig. Wo in Asien das Alter als ehrwürdig galt und Ahnenverehrung selbstverständlich war, sah man in unseren Breitengraden die ganze Sache wohl eher von der praktischen Seite. Die Alten waren für die Kleinen da, um sie zu hüten und zu lehren auf ihre Weise, während die Eltern der Enkel arbeiteten. Ob sie grundsätzlich gut behandelt wurden, als unnütze Esser ihr Leben fristeten oder ob man ihnen tatsächlich mit Respekt begegnete, war von den Menschen selber und natürlich von den Lebensumständen abhängig.
Aber das waren Zeiten, in denen das Alter einen Platz im Gefüge des Lebens einnahm. Man war jung – dann kam die Mitte des Lebens – dann das Alter. Und jeder dieser Abschnitte hatte seine Regeln, gegen die nicht verstoßen wurde. Oder sehr selten. Das Korsett der sozialen Einengungen ließ nicht sehr viel Spielraum, so etwas wie Selbstverwirklichung gab es zwar durchaus – aber es war noch nicht in Mode gekommen. Diese dunklen Zeiten gingen vorüber, und die Grenzen verschwammen zusehends.
"Kinder soll man sehen, aber nicht hören", dies war ein gern zitierter Satz in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. In der Praxis hieß das meist, dass die Kinder einem ständigen Drill ausgesetzt waren. "Mach einen Diener", "Gib die 'schöne' Hand", "Knickse mal schön für die Tante", und was dergleichen Sonderbarkeiten mehr waren. Die Kleinen waren lange Zeit am unteren Ende der Kette angesiedelt – und vor lauter Erziehung vergaß man gerne, dass es sich um junge Menschen und nicht einfach um gut erzogene Vorzeigeobjekte handelte. In noch schlimmeren Zeiten kam noch der Nutzen als kostenlose Arbeitskraft hinzu.
Das änderte sich langsam aber sicher, und Dinge wie Knickse oder ergeben vorgestreckte Patschhände verschwanden aus dem Alltag. Jung sein war nicht länger ein Makel – irgendwie war es das nämlich gewesen. Alle wollten so schnell wie möglich "groß" werden, um in den exklusiven Club der Erwachsenen aufgenommen zu werden.
Männer in den "besten" Jahren hatten irgendetwas, auf das sie stolz waren – entweder Vermögen, Kraft, Pflichtgefühl oder sonst etwas, das ihnen "anstand". Die Frauen hatten – kamen sie aus einfachen Verhältnissen – zu arbeiten und ordentlich auszusehen. Waren sie wohlhabend, legten sie – oder ihre Gatten – auf ihre Erscheinung größeren Wert, forcierten auch wohl die Jugendlichkeit. So war das und alle waren einigermaßen zufrieden.
Dann kam aber alles ganz anders – die Herrschaftsverhältnisse verschoben sich nicht nur – sie kehrten sich völlig um. Auf einmal waren die Kinder die eigentlichen Familienoberhäupter. Wie das tatsächlich passiert war, weiß man nicht so genau – mit dem kurzen Intermezzo der antiautoritären Erziehung kann das nicht erklärt werden. Dieser Ansatz war nicht wirklich falsch – distanzierte er das Ganze doch eigentlich nur vom bis dahin üblichen Drill. Eine große Rolle dabei spielte die Industrie – die Werbung entdeckte die Kinder als Zielpersonen. Damit war die Revolution der Jungen besiegelt und nahm ihren Lauf ... mittlerweile bestimmen die Kinder zu einem großen Teil, was konsumiert wird und was im Fernsehen zu laufen hat.
Und jung sein bedeutet nun nicht mehr unreif, unwissend und naiv – es steht für "Power – Innovation – Lifestyle" und alles, was man einem Wörterbuch für amerikanisches Englisch sonst noch entnehmen kann. Wer jung ist, hat das Sagen – egal wo. Und das Erscheinungsbild der Älteren änderte sich radikal. Waren Frauen vorher um die fünfzig herum nur noch im geblümten oder gepunkteten Kostüm unterwegs und trugen ihr ergrauendes Haar mit einer leichten bläulichen Tönung, mutieren sie nun zu reifen Barbies, denen man ihr Alter kaum ansieht. Männer färben sich das Haar und holen stetig auf, was die Inanspruchnahme plastischer Chirurgie angeht – wer nicht jung wirkt, ist völlig aus dem Rennen.
Früher blieb nur der Platz am Ofen für die Älteren, heute stehen ihnen spezielle Skaterkurse zur Verfügung – und die Angst vor dem Überaltern des Volkes wird größer. Zwischen den Generationen schwindet der Respekt – was bleibt, ist Feindseligkeit. Die Alten räumen zu Recht ihren Platz im öffentlichen und sozialen Leben nicht, wollen allerdings ihre Schuld an der Situation der "rotzfrechen" und scheinbar ohne Werte lebenden jungen Generation nicht sehen – und jeder sieht neidisch auf den anderen.
Die Politik ist nicht hilfreich, wenn sie Leute "zwingt", im Arbeitsleben zu verharren, bis sie fast Greise sind. Natürlich ist ihnen der Hass der Jungen gewiss. Aber alle wollen leben – und die neue Respektlosigkeit den Alten gegenüber ist nicht zu camouflieren durch Seniorentreffs, Seniorenreisen, Seniorenplattformen oder Seniorensonstwas.
Durch die Verschiebung der Markierungen, was die Messlatte des Alters betrifft, erleben die Menschen ab fünfzig bis "open end" eine nie vorher existierende Lebensqualität. Aber dafür sind sie ab vierzig – und zunehmend auch schon davor – nicht mehr wirklich konkurrenzfähig. Das kann jeder Arbeitsvermittler bestätigen. Wenn das körperliche Vermögen nachlässt – so war es immer – kommt das Erlernte zum Tragen, die Erfahrung. Das sollte nicht unterschätzt werden, denn die Praxis schlägt öfter als einmal die Theorie. Ein offener Mensch, der seine Lebensjahre mit bewusstem Lernen verbracht hat, mit dem Sammeln von Eindrücken und Erfahrungen, verfügt über unschätzbare Ressourcen, was das Vermitteln von Erfahrungen angeht. Aber gibt es dafür keinen "Markt" mehr?
Die Alten holen in Sachen "neuer Technologien" auf – das Bild von der verwirrten Oma, die staunend zusieht, was der Enkel so mit dem Notebook macht, ist meilenweit von der Realität entfernt. Oma hat selber so ein Ding und weiß sehr gut damit umzugehen. Die Generationen leben nebeneinander her, sie unterstützen sich nicht mehr gegenseitig. Das gilt nicht für alle Familien – aber doch für den größten Teil. Und es sieht so aus, als würden sie sich über kurz oder lang erbittert bekämpfen. Jugendwahn contra Überalterung ... dabei würde es keine Rolle spielen, denn wir wissen ja, dass Alter eine relative Sache ist.
© "Jugendwahn contra Überalterung": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2013. Bildnachweis: Rentnerpaar auf der Schaukel, CC0 (Public Domain Lizenz).
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