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Als ich noch klein war, glaubte ich, dass der Mond mir folgt. Er ging mit mir, verschwand hin und wieder hinter irgendetwas Hohem, nur um wieder zu erscheinen. Er hatte etwas Tröstliches, dieser Mond. Ich wusste, dass es nicht dunkel sein musste, damit ich ihn sehen konnte. Er erschien mir zuliebe auch am Tag – jedenfalls dachte ich das.
Für mich stand auch fest, dass die Wolken Federbetten sind, und eines meiner Lieblingsspiele war das Betthopsen, weil ich mir vorstellen konnte, von Wolke zu Wolke zu hüpfen. Das Spiel gefiel den Erwachsenen nicht, mir jedoch sehr.
Für Kinder ist das Leben hart, auch wenn ihnen Böses zum größten Teil erspart bleibt – trotzdem brauchen sie Zauberei, um sich in dieser Welt einen Platz zu erobern. Ostern und Weihnachten sind wahre Magiefestivals, sie bündeln Geruch, Geräusch und Farbe zusammen und sind Erinnerungsmarken, die bleiben. Kinder gehen mit jedem Schritt durch magische Welten, die nur sie kennen und von denen sie nichts verraten, sie erschaffen sich Rituale, um mit dem fertigzuwerden, das sie ängstigt.
Erwachsene haben alles vergessen, sie wissen nichts mehr von der Angst, die das Überqueren des Flurs so schwierig macht, sie verstehen nicht, wieso die Zaubersprüche so wichtig sind. Sie wissen nicht einmal, dass es Schutzzauber sind und keine Widerreden oder Verweigerungen. Sie neiden vielleicht den Kindern ihre Welt, aber sie bauen auch Zäune. Ein Zaun ist dieses Reden mit anderen Erwachsenen über die Kinder, wenn diese dabei sind. Es ist, als wären sie nicht da, und ich weiß noch, wie mich das jedes Mal erbitterte. Ich war noch zu klein, um viel über Benehmen zu wissen, aber es erschien mir nicht richtig. Mir war nicht klar, was es bedeutet, zum Objekt gemacht zu werden – aber ich spürte, dass ich in diesen Momenten meiner selbst beraubt wurde. Es war, als wäre ich ein bloßes Ding im Raum.
Ein ständiger Angstpunkt für die Familie war meine Dünnheit – obwohl ich kein mäkliger Esser war und auch mit Appetit aß. Aber da man mir das nicht ansah, argwöhnten die Erwachsenen wohl, dass andere Leute einen Fall von Kindesvernachlässigung sahen und klagten denn auch sofort ihr Leid. "Isst ordentlich, nimmt aber nicht zu – wir wissen gar nicht, was wir noch tun sollen." Irgendwann hörte ich weg. Ich hatte keine Ahnung, worum es eigentlich ging – glaubte einige Zeit, etwas falsch zu machen und fühlte mich irgendwie schuldig. Aber trotzdem blieb ich dünn. Sie lobten mich manchmal auch vor anderen, wenn ich dabei war, aber meist taten sie das Gegenteil. Heute würde man sagen, sie übten sich im Understatement. Das, was man hat, herabsetzen – um es dadurch umso mehr wirken zu lassen.
Kleine Kinder kennen solche Kniffe noch nicht – sie hören nichts zwischen den Worten. Es macht ihnen nur Angst. Deswegen brauchen Kinder die Magie, die Wolken und einen Mond für sie alleine.
Als ich erfuhr, was Wolken sind, war ich nicht enttäuscht – als der Mond erobert wurde, fand ich es schade, dass niemand dort oben wohnt. Da war ich etwas älter und die Zaubersprüche waren anders geworden. Die Drehs der Erwachsenen waren durchschaubar geworden, es begann eine Zeit, in der man mit jedem Fuß in einer anderen Welt lebte. Kinder können das – auch Heranwachsende können es noch. Und wenn es ganz, ganz gut geht – wenn jemand viel Glück hat, kann er es auch noch, wenn er erwachsen ist. Das sind diejenigen, die den Schlüssel nicht weggeworfen haben – und die sich erinnern können. Diese Leute sind die allerbesten Erwachsenen, die ein Kind haben kann.
Ich bin längst nicht mehr klein, aber wenn ich abends unterwegs bin, erinnere ich mich manchmal an den Mond und lade ihn ein, ein Stück mit mir zu gehen ... so wie früher einmal. Auch wenn ich weiß, dass es damals nur eine optische Täuschung war. Aber das macht nichts aus – ich erinnere mich an diese Magie. Und so wie damals, macht es mich froh.
© "Als ich noch klein war – Kinder und ihre Rituale": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2013. Illustration: Thomas Alwin Müller, littleART.
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