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Lesen Sie diese Geschichte ab dem I. Teil:
Wenn ein geliebtes Tier stirbt
Fast auf den Tag genau ist Amy jetzt ein Jahr hier bei uns, und sie selber wird im kommenden Februar zwei Jahre alt werden. Seit sie hier eingezogen ist, wird nach Hundejahren gerechnet – weil so ein Mitbewohner eben sehr viel verändert. Zuerst einmal die Zeitwahrnehmung – vielleicht kann man sich bei wirklich sehr fiesem Wetter einige Minuten vor dem fälligen Gassi drücken – aber nicht länger. Dabei erfährt man eine erstaunliche Zeitverschiebung und versteht Einsteins Relativitätstheorie besser. Merke: Ein toller Spaziergang bei strahlendem Sonnenschein oder im trockenen Schnee dauert nur halb so lang wie einer bei strömendem Regen oder Matsch. Auch wenn es sich jeweils um anderthalb Stunden handelt. Das wissen Hundefreunde und haben sich längst daran gewöhnt.
Amy schätzt Regenwetter überhaupt nicht. Will man nach draußen mit ihr, weil es "hoch an der Zeit" ist, schaut sie in den Regen hinaus und blockiert vor der Haustüre erst einmal. "Willst du wirklich da raus?", scheint sie zu fragen. Man nährt dann die leise Hoffnung, dass man mit einem "Schnelldurchgang" davonkommen könnte, schließlich mag der Hund ja selber nicht. Aber Amy hat allenfalls Anfangsschwierigkeiten, denn mit jedem Meter, den sie läuft, scheinen die Visitenkarten der Hundekollegen interessanter zu werden.
Die verschiedenen Duftmarken sind nichts anderes als eben das – kurze Beschreibungen desjenigen, der sie hinterlassen hat. Reklame in eigener Sache wahrscheinlich, vielleicht sogar Warnungen und Informationen, welche die Fortpflanzung betreffen. Und scheinbar – das kann jeder Hundeausführer bestätigen – verstärkt Regen die Gerüche. Für den bedauernswerten Menschen am anderen Ende der Leine bedeutet das ein eher längeres als kürzeres Gassi.
Aber da die allermeisten Hundeliebhaber tapfere Leute sind, trifft man auf der Lieblingsstrecke noch andere Leute mit Hund. Alle tragen Kapuzen, feste Schuhe und sind mit mindestens einem Päckchen Papiertaschentüchern ausgerüstet. Und in der Gruppe ist es eben auch nur noch halb bis viertel so schlimm. Die Hunde balgen sich, rennen, toben und sehen nach kurzer Zeit aus wie Wildschweine frisch aus der Suhle – es macht jedem Spaß, auch denen, die mit hochgezogenen Schultern und im Anorak laufen.
Jeder Hund hat so seine "Macken", so wie wir Menschen eben auch. Man richtet sich eben darauf ein. Amy liebt das Buddeln und kann dabei jedes Kommando ignorieren – auch die gebrüllten. Die Trillerpfeife zeigt die höchste Stufe der Ungeduld an – und da kommt sie dann doch noch. Zur Sicherheit zerknirscht, aber doch ratlos wegen des Abrufs ... schließlich roch es so toll nach Mäusen. Das muss dieser Mensch doch verstehen, auch wenn er nie buddelt. Überhaupt neigt die junge Dame zum Hinterfragen. Es gibt Hunde, die jedes Kommando sofort ausführen, ob es ihnen nun in den Kram passt oder nicht, was durchaus nicht grundsätzlich auf harten Drill zurückzuführen ist. Es liegt auch am Wesen des Hundes.
Amy gehört eher zu der Sorte, die eine gewisse Logik (vom Hund aus gesehen) brauchen. Beim Buddeln schaltet sie manchmal auf stur ... kommt ein Auto den schmalen Feldweg herauf, reicht ein leises "Amy, hierher" um sie "bei Fuß" zu bringen, wo sie wartet, bis der Weg frei ist. Sieht sie einen fremden Hund, gehorcht sie ebenfalls sofort, wenn sie gerufen wird. Ein ihr bekannter Kumpel allerdings setzt alles außer Kraft, was sonst Geltung hat, und Amy fliegt geradezu über den Boden.
"Was ist denn dabei – warum soll ich nicht hinrennen?", scheint sie zu denken. "Ich kenne ihn, du kennst ihn, wir sind ein Rudel – zumindest hier draußen." So oder so ähnlich könnte die Übersetzung dessen lauten, was in Amys Kopf vorgeht wenn Rocky, Lucy oder ihre anderen Sparringspartner am anderen Ende der Riesenwiese auftauchen. Natürlich ist das reine Spekulation, aber es fühlt sich auf jeden Fall so an. Sie gehört vielleicht zu der Art von Hunden, die (vielleicht nicht immer erwünscht) eigenständig Entscheidungen treffen. Zwar kann diese mittelgroße, braune Schönheit wohl nur auf eine lange Reihe von Straßenhunden als Ahnen zurücksehen – aber warum soll ich mich über Eigenschaften aufregen, die bei anderen Hunden praktisch als "Adelsprädikat" angesehen werden. Vom Irish Wolfhound zum Beispiel heißt es in der Legende, er erkenne eigenständig Freund und Feind und richte seine Aktionen darauf ein. Tatsächlich ist dieser ansonsten sanfte Riese kein Hund für kompromisslosen Drill.
Bis jetzt waren die Ausrutscher der Socke kein Problem – denn sie ist weder aggressiv noch läuft sie weg – und wenn es wichtig ist, hört sie erstaunlicherweise sowieso wie ein hervorragend erzogener Hund. Nun ja, wie ein gut erzogener Hund. Außerdem lernt sie schnell – das Kommando, das sie dazu bringt, die Seite zu wechseln, braucht kaum ausgesprochen zu werden. Sie wechselt auf leisen Zuruf, sobald Kinderwagen, Leute mit Stock oder Trolley auf uns zukommen – das ist gewollt, damit sie niemanden behindert oder vielleicht auch verunsichert. Das Brüllen "GUT JETZT, SEI STILL" beim späten Abendgassi, wenn sie einen Hund bemerkt, konnte durch ein Handzeichen ersetzt werden. Sie darf sich kurz äußern, aber keifen eben nicht – es gibt Leute, die um 22 Uhr ihre Ruhe haben wollen. So ist jeder zufrieden.
Amy hat keinen Spaß an Spielzeugen – Bällchen holen kann sie, tut es aber eigentlich nur, um mir einen Gefallen zu tun. Sie versteht unter Spielspaß nur das Toben mit anderen Hunden. Oder das Rangeln auf der Couch mit dem Menschen, den sie gerade auserkoren hat. Das Zernagen ist ihre zweite Leidenschaft. Mittlerweile tut sie es nur noch mit den Sachen, die dafür vorgesehen sind – und diesen Unterschied kennt sie sehr genau. Sie ist – obwohl ganz gewiss nicht der erste Hund in meinem Leben – doch eine neue Erfahrung. Manche ihrer Verhaltensweisen passen eher zu einer Katze – aber das ist nun einmal so bei ihr. Da sie grundsätzlich ihren Teil zu einer guten Beziehung beitragen will, gerät nichts zu einem Problem.
Ihre erste Hitze hat sie hinter sich, und wie erwartet gab es keinerlei Probleme oder größere Unbequemlichkeiten. Im "Revier" weicht man sich aus für diese Zeit, was die Spaziergänge ein wenig eintöniger macht, da nur die Weibchen zum Spielen infrage kommen.
Jetzt, nach einem Jahr, wird sie ihrem Ruf als Wundertütenhund immer noch gerecht – wie jeder Hund und jede Katze ist sie immer für eine Überraschung gut ... und fast immer für eine schöne. Das ist eben Amy, die Socke.
© "Mein Wundertütenhund: Der erste Jahrestag": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2013. Bildnachweis: Hund mit hellem Fell, CC0 (Public Domain Lizenz).
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