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Wehmütige Erinnerungen sind eine Sache – bittersüße Gedanken an etwas, das gewesen ist und die man genießt wie so ein Stück Schokolade ... aber nicht diese helle Milchschoko, sondern die dunkle, gehaltvollere. Der verzweifelte Versuch allerdings, das was gewesen ist, wieder herbeizurufen, es festzuhalten – das ist nicht wirklich möglich. Der Versuch, quasi die Naturgesetze außer Kraft zu setzen und die Zeit zurückzuspulen wie ein altes Tonband, ist wohl selbstzerstörerisch. Natürlich versuchen fast alle von uns aber genau das – zumindest hin und wieder.
Man sieht sich Filme an, die man "damals" mit den Freunden toll fand, hortet Erinnerungsstücke, wie zum Beispiel schon in Auflösung begriffene Karten für ein Live-Konzert der Rolling Stones oder sonst etwas, das mit den herrlichen Zeiten zusammenhängt, die lange vorbei sind.
Überhaupt ist die Musik ein Zauberstab, der auch die Zeit ein wenig beeinflussen kann ... mancher kann sich damit in eine Zeit versetzen, wo das Leben wunderbar war – natürlich gibt es auch den gegenteiligen Effekt. "Was hab ich daran bloß gefunden?" – das ist jedem schon so gegangen. Aber selbst wenn man es nicht mehr so richtig mag, erinnert man sich. An alles was mit dieser Musik zusammenhängt. Diese spezielle Magie hat den Schriftsteller George R. R. Martin zu seinem Buch "Armageddon Rock" inspiriert.
Hier geht es um die Musik, beziehungsweise um das Lebensgefühl, das damit verbunden ist. Der Held ist Autor und Journalist – beides gerade in eher bescheidener Form. Seine Zeit war die Ära der großen Bands ... Woodstock oder Monterey. Und vor allem eine Band war es gewesen, die ihn und seine Freunde nachhaltig beeinflusste: die Nazgul. Die Formation spielte harten Rock vom allerfeinsten – und der Frontmann hatte eine unglaubliche Persönlichkeit. Ein Albino, klein und mit wehender weißer Mähne, trug er in seinen rötlichen Augen die Flamme der Revolution. Bei einem großen Festival wurde er erschossen – niemand fand je heraus, wer es gewesen war ... und die Nazgul brachen auseinander.
Viele Jahre später sammelt ein ominöser Geldgeber die versprengten Gruppenmitglieder wieder auf – wer sich weigert, wird überredet. Die Mittel dafür sind nicht besonders nett – ein Club brennt ab, es gibt viele Tote. Der Besitzer, der nun perspektivlos ist, stimmt einer Reunion zu ... und drei der ehemaligen Bandmitglieder finden sich bereit. Was aber ist mit dem vierten – dem charismatischen Leadsänger? Das wird geheimgehalten, die Presse zwar gefüttert, aber niemand aus dem inneren Kreis verrät, wer der vierte Mann sein wird.
Und dann gibt es eine unglaubliche Überraschung: der auferstandene Albino steht auf der Bühne. Es handelt sich um einen Doppelgänger, dessen Ähnlichkeit mit dem Ermordeten zusätzlich durch Operationen forciert wurde. Der Junge ist Musiker – und er hat sein totes Vorbild anhand Filmen und Bändern studiert bis in das kleinste Detail. Anders als der echte Star ist er nett – ein lieber Junge, der eigentlich ängstlich ist und niemanden wehtun möchte – aber dann verändert er sich ... hinter den Kulissen der Konzerte tobt ein makabrer Krieg.
Der Journalist macht die Berichterstattung, und die Tour gerät zu einem Trip durch die Zeit – alles ist anders geworden, als er und viele andere damals geglaubt haben. Ob es besser oder schlechter ist, muss er für sich herausfinden. Die Revolution der sechziger ist tot – aber das wollen einige Leute nicht wahrhaben, und so wird Sander – so der Name des Antihelden – in einen Strudel von Gewalt, Mord, Magie und Besessenheit gezogen. Plötzlich scheint es, als käme der tote Leadsänger der Nazgul zurück – die Fans ziehen in Massen zu den Konzerten – dahinter steckt jedoch ein aberwitziger Plan, der sich dunkelster Mächte bedient ... nur um die Revolution, die es so niemals gegeben hat, doch noch stattfinden zu lassen.
Martins Buch ist eines dieser "Was wäre gewesen wenn Geschichten" – unglaublich spannend und auch tiefgründig. Da ist einer noch so, wie er damals gewesen war – ein anderer gehört genau zu dem Establishment, das er bekämpft hatte. Oder ging es immer nur um das "Tun als ob"? Auch wenn die Geschichte ihren Anfang in den berühmten sechziger Jahren hat – sie könnte in jeder Zeit spielen. Sander hat die Chance genutzt und sich mit dem, was geschehen ist, ausgesöhnt – er findet auch seine Liebe wieder, die er irgendwo geparkt hatte, als er probeweise auf den Zug der Angepassten aufgesprungen ist. Aber nicht jedem gelingt das – nicht in dieser Geschichte und nicht im realen Leben. Aber natürlich sind diese kleinen Zeitreisen, die wir alle hin und wieder machen, wenn wir eine CD anhören, kaum in Gefahr, zum Horrortrip zu werden ... jedenfalls meistens nicht.
© Textbeitrag "Für Sie gelesen": Winfried Brumma (Pressenet), 2013. Bildnachweis: Illustration Mond und Wasser, CC0 (Public Domain Lizenz).
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