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Was früher Romane von romantischen Schriftstellern waren, wie zum Beispiel Hedwig Courths-Mahler oder Eugenie Marlitt, sind heute Filme. Auch Erwachsene mögen Märchen, auch wenn sie das nicht unbedingt wissen – und oft kommt so etwas versteckt daher. Da gibt es Filme, die etwas leiser sind als andere – solche, die mit allen Dingen daherkommen, die tatsächlich "für Große" sind, und die doch eine so zauberhafte Geschichte erzählen, dass man sie kaum anders nennen kann als eben Märchen.
Ein schönes Beispiel ist der Spielfilm "Das Labyrinth der Wörter" aus dem Jahre 2010. Die Hauptpersonen sind wenig glamourös auf den ersten Blick: Germain, ein Handwerker und Gärtner aus Leidenschaft, ist einer, der mit Büchern nichts anzufangen weiß. Wörter sind für ihn so etwas wie Bausteine für ein Labyrinth, in dem er sich nicht zurechtfindet – er gilt den meisten seiner Mitmenschen als Trottel, als ungebildeter Idiot. Und dann lernt er eine alte Dame kennen, sie ist über neunzig und liebt das Lesen über alles – so wie Germain seine Pflanzen. Sie sprechen über Tauben, als sie sich im Park zum ersten Mal begegnen.
Germain hat dem kleinen Schwarm, der sich von ihm füttern lässt, Namen gegeben und er kennt jeden Vogel genau. Das ist die erste Gemeinsamkeit, die beide entdecken – denn Margueritte (mit zwei "t") ist eine sehr tolerante und immer noch sehr neugierige Frau. Sie führt Germain mit der Zeit an eine neue Art des Denkens heran – an das Umgehen mit Wörtern. Germain hatte keine besonders gute Kindheit, seine Mutter war nicht gerade sehr liebevoll und in der Schule wurde er gehänselt und von den Lehrern gemobbt. Zwar verfügt er über ein visuelles Gedächtnis, das überdurchschnittlich ist, aber das ist niemals jemandem aufgefallen.
Mit der Zeit schafft Margueritte es, die Mauern des Labyrinths einzureißen, und Germain begibt sich auf das größte Abenteuer seines Lebens: er liest. Und als er erfährt, dass Margueritte bald erblinden wird, übt er mit Hilfe der Busfahrerin, seiner Geliebten, die ihn so liebt, wie er ist, das Vorlesen. Germain erklärt seine Schwierigkeiten mit den Wörtern so: "Es ist wie ein Haufen Schrauben, das sind die Wörter, die dann so herumliegen und ich kann nichts damit anfangen. Es ergibt keinen Sinn." Er kann anfangs nicht den Sinn erfassen, wenn er selber liest – aber er genießt es, wenn Margueritte ihm vorliest. Er kommentiert und denkt darüber nach – und man entdeckt, dass dieser Mann eigentlich sehr, sehr klug ist.
Germains bedächtiges Einreißen von Mauern ist etwas, das auch dem Zuschauer so viel Vergnügen bereitet, als würde er selber noch einmal auf diese große Abenteuerfahrt gehen, so wie damals, als er selber entdeckt hat, wie Wörter zu Geschichtenerzählern werden können.
Die alte Dame ist im Altersheim untergebracht, auf Kosten ihres Neffen, der sich das aber kaum leisten kann – so kommt es, dass Germain sie nicht mehr findet, als er ihr glücklich von der Schwangerschaft seiner Liebsten, der Busfahrerin, erzählen will. Da das Heim zu teuer wurde, hat man Margueritte weit fortgebracht, viele hundert Kilometer an die Grenze zu Belgien, wo es weitaus günstiger ist.
Und dann wird es märchenhaft schön – denn Germain steigt in seinen Laster und fährt los. Seine Mutter ist kurz vorher gestorben und hat ihm das Haus hinterlassen, von dem er immer geglaubt hatte, es sei nur gemietet. Sie hatte jahrelang gespart, um es ihm vererben zu können. Alles fügt sich – das Haus für ihn, seine Geliebte und auch bald für sein Kind. Und natürlich auch für Margueritte – denn der Film endet damit, dass Germain die alte Dame kurzerhand entführt und nach Hause mitnimmt.
Beide sitzen im Auto und teilen sich ein Baguette – sie lachen und sind übermütig – also nichts anderes als ein tatsächliches, wunderschönes Märchen. Und wie nach allen wirklich glücklichen Geschichten bleibt das Lächeln im Gesicht des Zuschauers noch lange, nachdem der Film zu Ende ist.
© Rezension "Ein Märchen der Neuzeit: Das Labyrinth der Wörter": Winfried Brumma (Pressenet), 2013.
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