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Der Tag war nicht besonders schön – so ein diesiges Wetter, das hinterlistig alle Klamotten feucht hielt, obwohl es nicht wirklich regnete, drückte auf die Stimmung. Die war sowieso nicht besonders gut, schon allein, weil ich mich hatte überreden lassen zu dieser Tour. "Schließlich", so hatte Lena gesagt, "muss man das mal gesehen haben."
Lena ist meine Freundin und hat eine Schwäche für Dinge, die man unbedingt gesehen haben muss. Diesmal war es die Befreiungshalle beim niederbayerischen Kelheim, ein runder Bau, den König Ludwig I. von Bayern seinerzeit als Mahnmal für die napoleonischen Befreiungskriege bauen ließ.
Nicht, dass ich wirklich gehofft hatte, um diese architektonische Überbordung herumzukommen, schließlich machten wir gemeinsam Urlaub in Bayern – und da gibt es sehr, sehr viel, wo man "unbedingt" gewesen sein muss. Aber vorerst war diese Befreiungshalle dran, und ich fügte mich in mein Schicksal. Bauten interessieren mich eigentlich, ich finde, dass sie so etwas wie eine Persönlichkeit haben. Nicht alle – manche sind einfach nur Häuser, oder etwas Praktisches, das gebaut worden ist irgendwann einmal. Einige wirken lebendig – und das müssen nicht immer Kästen sein, die unter Denkmalschutz stehen. Manchmal ist es einfach so eine Betonburg mit 'zig Wohnungen drin, die einem beim Ansehen irgendetwas fühlen lässt.
Lena ist da anders, sie weiß immer alles über die Denkmäler, die wir uns ansehen – sie macht immer ihre Hausaufgaben. Das kommt aus ihr herausgeschwappt wie aus einem sprechenden Lexikon, sie überlässt nichts dem Augenblick. Ich lass das einfach erst mal so auf mich wirken, während ich ihr zuhöre. Manchmal passt das Gefühl, das ich beim Ansehen zu den Informationen habe, die sie mit mir teilt – manchmal jedoch nicht. Aber ich verkneife mir das Reden darüber, es würde sie wahrscheinlich verwirren und hätte einige Diskussionen zur Folge. Lena hinterfragt immer alles – manchmal ist es anstrengend.
Aber ich wollte von diesem Tag erzählen und von diesem Bau, den wir da angesehen haben. Ich muss dazu noch sagen, dass ich kein Historienfreak bin. Über Geschichte weiß ich nicht allzu viel – nur das Allergängigste. Lena schüttelt immer den Kopf darüber, von wegen, dass wir die Zukunft nur meistern können, wenn wir die Vergangenheit kennen und all das. Das stimmt wahrscheinlich, aber im Großen und Ganzen hat sich immer alles wiederholt, denke ich. Hat man das Prinzip erkannt, überrascht einen nicht mehr viel. Dachte ich jedenfalls.
Wir kamen also an, und Lena meckerte, weil das Bauwerk durch das trübe Wetter nicht so toll war wie in ihrem Reiseführer. Sie hat eine Schwäche für diese Dinger, und wenn ich was sage von zu vielen Bäumen, die dafür sterben, winkt sie nur ungeduldig ab. Manchmal weiß sie eben genau, dass ich sie frotzele. Aber da keiner was gegen diesen Regen tun konnte, warf Lena sich mal wieder so richtig in die Begeisterung hinein. Sie ratterte die Daten herunter und erzählte vom Architekten und wer diese Statuen gemacht hat – nur ... ich hörte kaum hin. Die zugegebenermaßen imposante Befreiungshalle jagte mir einen Schauder über den Rücken. Warum, kann ich nicht sagen, es war einfach so. Das Teil steht frei, und eigentlich ist es in hellen Tönen gehalten, passt zur Umgebung und sieht nicht bedrohlich aus. Trotzdem hatte ich ein ziemlich sonderbares Gefühl, ich fror auch ein wenig. Lena sagte ich nichts davon. Aber da hineingehen wollte ich um nichts in der Welt – mir fiel auch keine glaubwürdige Ausrede ein. Jedenfalls keine, mit der ich bei Lena durchgekommen wäre.
Innendrin sah es toll aus, jedenfalls wenn man auf diese klassischen Formen steht. Göttinnen machen da einen Reigen, überall Tafeln mit Namen darauf. Die großen Standbilder draußen am Bau stellen die verschiedenen Regionen Deutschlands dar – also alles sehr symbolträchtig. Ich kam ins Grübeln, während meine Freundin begeistert vor sich hinblubberte. Ein Zusammenschluss verschiedener Kräfte, um etwas zu erreichen, eine Union für die Freiheit. Das klang toll, so wie in diesen alten Sagen. Gegner verbünden sich, um einen großen Feind zu schlagen, dachte ich noch. Und ich schaute mir die vielen Siegesgöttinnen genauer an – aber die wirkten auf einmal etwas verwischt, so als trüge man eine verschmierte Brille.
Ich schüttelte den Kopf, um wieder klare Sicht zu bekommen, aber irgendwie stand ich plötzlich im Nebel. Hatten die sich nun bewegt oder ... und wieso hörte ich Lena nicht mehr? Ich weiß nicht genau, wie es kam, aber auf einmal war alles voll von Rauch. Das war es, das ich für Nebel gehalten hatte. Ein Stoß in den Rücken warf mich auf die Knie – und als ich herumrollte, sah ich diesen Mann in Uniform vorbeirennen. Er fiel fast, taumelte und schrie irgendetwas, das ich nicht verstand. Noch ein Rempler – ein anderer Soldat hatte mich gestreift.
Ich versuchte, mich um mich selbst zu drehen, um irgendetwas erkennen zu können, aber alles, was ich sehen konnte, waren diese Kerle in altmodischen Uniformen, mit weißen Hosen und bunten, sonderbar geschnittenen Jacken. Sie rannten, schrien, fielen und rappelten sich auf, um weiterzulaufen. Der Boden bebte, und es gab einen solch gemeinen Knall, wie ich noch keinen gehört hatte. Einer nahm mich an der Schulter und riss mich mit. Noch mehr Donner, der Boden bebte und auf einmal lag er neben mir. Ich ging runter, um zu sehen, was mit ihm geschehen war, und ich werde niemals dieses Loch in seinem Rücken vergessen – etwas hatte ihn getroffen und sofort getötet. Er hatte die Augen offen, aber er war tot. Um mich her knallte es weiter, man konnte kaum etwas sehen, aber sogar mir war klar, dass ich mich auf einem Schlachtfeld befand. Es wäre wie in einem verdammten Film gewesen, hätte es nicht so gemein nach Rauch gestunken – wie Silvester, nur viel, viel stärker. Das musste Schießpulver sein, denn soweit ich wusste, wurde das Zeug von diesen Soldaten benutzt zu der Zeit. Mir war eingefallen – obwohl ich eigentlich andere Sorgen hätte haben sollen – dass die Uniformen zu den Truppen der Befreiungskriege gehörten. Dank Lena hatte ich mir das kurz angeschaut in ihrem Heftchen. Die Flüchtenden trugen nicht alle dieselben Uniformen, das variierte – wenn ich es auch nicht zuordnen konnte.
Mittlerweile lag ich ausgestreckt neben dem toten Kerl, der mir hatte das Leben retten wollen. Ringsum war es ruhiger geworden, nicht mehr so laut. Aber der Rauch, der alles umwaberte, war rötlich und dicht. Ich stand auf und ging langsam voran, mit brennenden, tränenden Augen. Viel sehen konnte ich nicht, aber die Toten lagen dicht an dicht. Einer rief, ich glaube auf französisch, irgendetwas und war dann plötzlich still. Weinen, Fluchen ... viele Stimmen, aber keine war kräftig. Deutsch, wenn auch ein wenig fremdartig. Ich erkannte es mehr am Ton als an den Worten ... wieder Französisch. Ich stolperte über einen riesigen Totenacker, was mir als Begriff immer etwas sonderbar vorgekommen war. Aber was sollte es anders sein, das Feld hier mit den unzähligen Toten. Manche lagen grotesk verrenkt da, streckten die Arme hoch oder knieten im Tod mit gesenktem Kopf. Eine Hand fasste meinen Knöchel, und ich schrie wie irre – die Hand ließ los.
Weiter ... weiter ... aber da stand eine Gruppe von Soldaten, direkt vor mir. Es waren verschiedene, sie standen da in der rauchverpesteten Luft und sahen mich an. Sie lebten, und das war für mich fürchterlicher als die vielen Toten, wenn ich auch nicht verstand, wieso. Einer sprach mich an, ein dreckiger Kerl mit blutigem Gesicht und zerfetzter Uniform. Er sah mir in die Augen und sagte: "Was, wofür? warum?" Dann schüttelte er den Kopf und strich über seinen Uniformfrack oder was das auch immer war. Der zweite nahm mich am Arm, er spuckte mir ein französisches Wort ins Gesicht, und ich verstand es sogar. "Warum?", fragte er mich.
"Was habt ihr nur gemacht?", sagte der Dritte in einem Dialekt, den ich aber verstand. Was er meinte, wusste ich nicht. Aber ich bekam immer mehr Angst, denn die Kerls machten den Eindruck, als würden sie mir irgendetwas vorwerfen – und ich war nicht mehr sicher, ob sie überhaupt am Leben waren. Zu blutverschmiert und hohläugig waren sie. Ich zuckte mit den Schultern, aber der Franzose schüttelte mich und ließ eine Reihe von Unfreundlichkeiten auf mich prasseln.
"Lass er es gut sein, Soldat." Die Worte kamen von einem, der gerade eben hinzugetreten war. Er trug eine einigermaßen saubere Uniform mit einigem an Dekor daran. Wohl ein hoher Rang, ich verstehe nicht viel davon. Der Franzose ließ mich los, fuhr mit der Hand über seine Augen und weinte. Er schluchzte so sehr, dass es den dünnen Kerl nur so schüttelte. Die anderen sahen zu Boden, und ich fühlte mich schuldig, ohne zu wissen warum.
"Sie dürfen es diesen braven Männern nicht verübeln, mein junger Freund." Der Kerl mit Lametta sprach Deutsch, so wie ich es gewohnt war. Oder jedenfalls fast. "Vielleicht haben Sie einen Eindruck davon gewonnen, welche Hölle hier losgebrochen ist. Das hier ist die Entscheidungsschlacht, müssen Sie wissen. Oder war sie es ...? Ich bin etwas verwirrt." Der Kerl nahm tatsächlich ein weißes Taschentuch aus dem Ärmel und wischte sich die Stirn ab. Und da fiel mir die Wunde auf ... so etwas konnte doch keiner überleben. Es sah aus wie ein Stich mit einem von diesen Aufsätzen auf den Flinten – Bajonett nennt man das, glaube ich. Ein Auge war auch nicht so richtig an seinem Platz, mir lief es kalt den Rücken hinunter.
"Wissen Sie, wir haben da etwas entschieden Großes geleistet, mein Guter. Wir haben den großen Feind im Inneren lange genug geknebelt, um diesen Krieg für uns zu entscheiden. Nicht besiegt, oh nein, das wäre unmöglich. Diese Zwietracht, diese Uneinigkeit." Der Mann sah sich um, mit einem unbeschreiblichen Blick, dann wandte er sich mir wieder zu. "So etwas kommt nur sehr selten vor, wie Ihnen klar sein dürfte."
Ich nickte verbissen, aber ihm genügte das als Zustimmung. "Wir erinnerten uns an das Notwendige, an das Einzige, das uns noch helfen konnte. Wir taten, was wir tun mussten." Dann nahm er wieder das Taschentuch, das allerdings nicht mehr weiß war, und tupfte sich den plötzlich blutenden Mund ab. "Wir taten es für uns – sicher – aber wir taten es auch für euch. Und vielleicht taten wir es auch für sie." Bei diesen Worten wies er hinter mich, und ich drehte mich um, wobei ich fast erstaunt war, dass meine Beine mich noch irgendwie trugen.
Der Offizier, oder vielleicht sogar General, war kein Monster oder so etwas – aber er war tot und er tat mir leid, so furchtbar leid. Mir taten alle leid, die hier waren, es war ein Gefühl wie Stacheldraht im Brustkorb. Und aus der Richtung, in die er gewiesen hatte, kam ein langer Zug von Menschen. Sie sahen aus, als kämen sie weit aus der Vergangenheit, sie trugen Umhänge und einfache Kittel. Manche hatten Helme und Ledersachen, aber es waren auch alte Menschen dabei und Kinder. Männer und Frauen stützten sich gegenseitig oder hielten sich an der Hand. Sie kamen aus allen Richtungen, vereinten sich zu einem einzigen Zug, um dann stehenzubleiben – bleich, stumm, ergeben.
"Wer sind die?", traute ich mich zu fragen. "Was sind das für Menschen?" Er war neben mich getreten und legte mir die Hand auf den Arm, mein unheimlicher Gesprächspartner. "Das sind die Stämme, junger Mann. Sie kamen endlich in Einigkeit durch die Weltenzeit, aber sie kommen immer nur bis hierher. Hier und jetzt endet mit dem Sieg die Einigkeit, und sie hat nie wieder stattgefunden. Ihr habt nichts daraus gelernt, habt nicht weitergemacht. Ihr habt es ... versaut, mein Junge."
"Euer Opfer, der Krieg, alles umsonst? meinen Sie das?" Ich hatte nicht geglaubt, so viele zusammenhängende Worte herausbringen zu können – aber er verstand mich. Mit einem Lächeln winkte er ab. "Ah nein, es ist nicht richtig, sich zum Töten zusammenzuschließen – auch wenn es notwendig sein sollte. Das ist etwas, das wir gelernt haben hier. Es bringt niemanden weiter, und deshalb ist es für uns immer dieser Tag der Schlacht, wir können nicht weitergehen. Wir bleiben hier und sterben. Für immer. Und die Stämme vereinen sich, um mit uns festzusitzen." Gedankenvoll fingerte er an seinem leicht heraushängenden Auge herum, was sein Aussehen nicht gerade verbesserte.
"Ihr hättet das Gleiche tun müssen, Junge. Aber nicht, um Krieg zu führen, sondern um endlich weitergehen zu können. Ein Zusammenschluss ohne Waffen, um die Feinde niederzuwerfen – ihnen die Macht zu nehmen ... ich rede nicht von Töten, wohlgemerkt. Wir kämpften für unsere Freiheit, mein Freund. Ihr solltet das Gleiche tun – wenn eurer Feind auch nicht unbedingt von außen kommt. Denn es geht um alle Stämme, nicht nur um die Deutschen." Er brach ab und lächelte ironisch. Seine Botschaft ging an die ganze Welt, nicht an ein bestimmtes Land.
"Der Feind", sagte ich, obwohl ich die Antwort wusste. "Der Feind, mein Sohn ... der Feind ist derselbe wie immer: Uneinigkeit, Verschlagenheit, Gier. Wir töteten unsere Söhne und damit unsere Hoffnung. Ihr brennt euer eigenes Haus ab und tötet euch selbst, seit langer Zeit." Dann steckte er sein Taschentuch, oder besser gesagt, diesen blutigen kleinen Fetzen wieder ein und wandte sich zum Gehen. Ein letztes Mal drehte er sich noch um, winkte und rief mir zu: "Sorgt dafür, dass es weitergehen kann!"
Wie lange ich ihm nachschaute, weiß ich nicht, aber mit ihm verschwanden die Toten ebenso wie die Leute der Stämme. Der Rauch veränderte die Farbe, er wurde weißlich und dann hörte ich jemanden rufen. Jemand rief meinen Namen. "Sag mal, hörst du mir überhaupt zu? Du siehst aus, als wenn du schlafen würdest." Ich schlug die Augen auf und sah Lenas verwirrtes Gesicht vor mir. Und um mich herum der Saal der Befreiungshalle mit Göttinnen und Sprüchen und all dem.
Was genau geschehen ist an diesem Tag, weiß ich nicht – aber erzählt habe ich niemandem etwas. Nur aufgeschrieben, wie Sie ja sehen. Aber eines kann ich Ihnen versichern, mein Verhältnis zur Geschichte hat sich sehr verändert – und Lena ist begeistert.
© "Der Traum der Einigkeit – die Befreiungshalle bei Kelheim": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2013. Illustrationen der Befreiungshalle: Arne Vierlinger.
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